Brenda Joyce
Jungen –
verschwunden sind?«, erkundigte sich Bragg bei der Lehrerin.
»Ja, ungefähr zur gleichen Zeit, als Rachael verschwand, wurde
plötzlich auch eine von Linda Wellingtons Schülerinnen vermisst. Sie verschwand
offenbar morgens auf dem Weg zur Schule. Ihr Name ist Bonnie Cooper. Es ist
geradezu eine Epidemie, Sir. Ich bin ja so froh, dass sich die Polizei
endlich der Sache annimmt.«
»Es überrascht mich, dass die Polizei nicht eher eingeschaltet
wurde«, entgegnete Bragg.
»Da müssen Sie die Eltern
fragen – oder Rektor Matthews«, erwiderte sie stirnrunzelnd und sichtlich
missbilligend.
»Hat irgendjemand etwas beobachtet?
Vielleicht weiß einer der Schüler, was mit Rachael, Deborah oder Bonnie geschehen
ist?«, fragte Francesca.
»Wir haben
alle Schüler gebeten, uns Bescheid zu sagen, falls sie etwas wissen,
aber niemand hat sich gemeldet. Und ich selbst habe mit meiner Klasse noch
einmal lange darüber gesprochen in der Hoffnung, eines der Kinder könnte
wenigstens einen kleinen Hinweis geben. Aber anscheinend hat niemand etwas
beobachtet.«
»Wie viele Kinder sind in Ihrer Klasse, Mrs Hopper?«, fragte
Bragg.
»Zweiundvierzig.
Es waren vierundvierzig.«
Francesca zuckte zusammen. Wie groß die Klasse war! »Und es gibt
noch eine weitere sechste Klasse?«
»Ja, die von Linda Wellington. Sie hat, soweit ich weiß,
fünfundvierzig Schüler.«
Francesca warf Bragg einen Blick zu. »Leigh Anne sollte mehr von
diesen Essen wie heute veranstalten.«
Bragg ignorierte die Bemerkung. »Ich muss Ihnen möglicherweise
später noch weitere Fragen stellen, Mrs Hopper. Gegebenenfalls werde ich Sie
von einem meiner Männer aufs Präsidium holen lassen.«
Mrs Hopper riss erstaunt die Augen auf. »Aufs
Präsidium?«
»Ich bin der Polizei-Commissioner von New
York, und dies hier ist Miss Cahill, eine Privatdetektivin«, erklärte Bragg.
»Sie arbeitet für eine andere Familie, deren Tochter ebenfalls vermisst wird.«
Francesca reichte Mrs Hopper ihre
Visitenkarte. »Falls Sie sich an irgendetwas erinnern, wovon Sie glauben, es
könnte von Bedeutung sein, setzen Sie sich bitte mit mir, mit Commissioner
Bragg oder mit Inspector Newman in Verbindung.«
Mrs Hopper nickte. »Ich würde Ihnen ja gern weiterhelfen, wenn ich
könnte. Ich wünsche mir nur, dass diese beiden lieben Mädchen gefunden werden.«
Sie verabschiedeten sich von Mrs Hopper und
eilten weiter den Flur entlang. »So viele verschwundene Kinder in so kurzer
Zeit – da muss eine Verbindung bestehen, Bragg. Aber wie könnte sie wohl
aussehen?« Furcht überkam sie.
Er warf ihr einen Seitenblick zu und erwiderte
ernst: »Vielleicht werden diese Kinder zur Arbeit in einem Ausbeuterbetrieb
gezwungen, Francesca.«
In gewisser Weise war sie erleichtert, denn
sie hatte bereits mit Grauen eine andere Möglichkeit in Betracht gezogen –
eine, über die sie lieber nicht näher nachdenken wollte. »Ich habe in Jacob
Riis' Buch über Immigranten gelesen, die zur Arbeit unter schlimmsten
Bedingungen gezwungen werden«, sagte sie rasch. »Aber ich hätte nie gedacht,
dass ich einmal damit konfrontiert werden würde. Was für ein ausgeklügelter
Plan, Arbeiter ausfindig zu machen und sie dann in solche Fabriken zu
entführen.« Sie steigerte sich in ihre Wut hinein. »Und noch dazu Kinder!«
»Es gelingt uns immer wieder, einen Ring solcher modernen
Sklavenhalter aufzudecken. Wir werden diese Verbrecher fassen.«
Francesca blieb schweigend vor der Tür zum
Büro von Rektor Matthews stehen und grübelte über die vier vermissten Mädchen
nach. Sie warf Bragg einen kurzen Blick zu. Er hatte sich zu ihren schlimmsten
Befürchtungen in keiner Weise geäußert, doch er schien ebenso aufgebracht und besorgt
wie sie selbst. Sicherlich drängte es ihn genauso sehr, den Kindern zu helfen –
wie verstört und ängstlich sie sein mussten.
Wie konnte so etwas nur im zwanzigsten Jahrhundert geschehen, in der einer der
größten und modernsten Städte der Welt? Ohne weiteres, dachte sie bitter. Die
gewaltige Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen den Begüterten und denen, die nichts hatten, machte es möglich.
Matthews rief sie herein und riss Francesca damit aus ihren
düsteren Gedanken. Der Schulleiter war ein korpulenter Mann mit buschigem
Backenbart, und er schien überrascht und zugleich seltsam erfreut, sie zu
sehen. »Bitte kommen Sie doch herein«, forderte er sie auf. »Sie sind nicht die
Eltern einer meiner Schüler?« Es war als Frage
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