Brombeersommer: Roman (German Edition)
hatte damals keinen gekratzt. Und inzwischen waren sie alle zu hungrig, um darüber nachzudenken, was früher war.
Nach dem Essen stellte Hermann Gronau sich in Pose, Hand auf dem Klavier, wie die Herren Kammersänger, und sang gar nicht übel mit Ediths Begleitung den »Erlkönig« und den »Nöck«.
Später, wenn die andern sich unterhielten, spielte Edith Inventionen von Bach oder die »Mondscheinsonate«, ihr Paradestück. Aber sie war unzufrieden mit sich, sie war aus der Übung. Zu Hause hatte sie fünf, sechs Stunden jeden Tag am Klavier gesessen, ohne müde zu werden.
Hermann, der ihre glänzenden Augen sah und die rotwangige Edith entzückend fand – eigentlich war sie fast zu schade für den wenig draufgängerischen und nierenkranken Karl –, gab ihr nach dem dritten Abend dieser Art einen Wohnungsschlüssel und bot ihr an, sie könne immer Klavier spielen, wenn er in der Praxis sei.
Edith strahlte, und Karl sagte nichts dazu.
12
Karl arbeitete schon bald wieder im Atelier. Er hatte die Lehre als Grafiker noch vor dem Krieg abgeschlossen, und sobald sein alter Lehrmeister aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war, meldeten sich alte Kunden. Neue kamen hinzu, und das Atelier nahm seine Arbeit wieder auf.
Karl war glücklich, an altvertrauter Stelle zu arbeiten. Er schien glücklicher darüber als über ihr Zusammensein, fand Edith. »Aber nein«, sagte Karl und zog sie mit seinem verhaltenen Lachen an sich. »Du weißt doch, es gibt nichts Schöneres als bei dieser Kälte mit dir im Bett unter der Decke zu liegen und Radio zu hören.«
Edith beanstandete, dass Karl kein festes Gehalt bekam, sondern als freier Mitarbeiter von Auftrag zu Auftrag bezahlt wurde. »Wie sollen wir da je auf einen grünen Zweig kommen«, fragte sie, »wenn du nicht mehr verlangst? Warum kämpfst du nicht ein bisschen für uns und unsere Zukunft? Und überhaupt könntest du Tante Gertrud fragen, ob wir nicht endlich ins Wohnzimmer ziehen dürfen.« Das Liebesleben, das sie hinter dem Vorhang aus Bettlaken in der Wohnküche führten, sei nun wirklich nicht besonders befriedigend, das müsse er doch zugeben.
Karl schwieg zu all ihren Vorwürfen.
Manchmal, wenn sie unglücklich war, schrieb Edith ihrer Mutter. Mit wem hätte sie sich auch sonst aussprechenkönnen? Mit Viola hätte sie sich gern angefreundet. Aber Viola arbeitete in Dortmund. Viola gefiel ihr, sie war unternehmungslustig und spontan. Die Leute hier waren nicht überschwänglich, nicht wie zu Hause, wo man sich mit Kind und Kegel besuchte, lange blieb und alles aufgetischt wurde, was das Haus zu bieten hatte. Mein Gott, das Theater, bis die Gans geschlachtet war und endlich, gefüllt mit Majoran, duftend im Ofenrohr briet. Und der von Schweineschmalz glänzende Rotkohl, in dem reichlich säuerliche Boskopäpfel mitgekocht wurden, bis sie schaumig im Blaurot zerfielen! Und Zucker musste hinein, viel Zucker und Nelken und Pfeffer. »Muttchen«, schrieb sie, »du glaubst gar nicht, wie der Rotkohl mir fehlt.«
Viola arbeitete nicht nur in Dortmund, sie und ihre Schwester Gerda wohnten auch dort bei ihrem Onkel, Helene Matusseks Bruder, der an Helenes statt Konditormeister geworden war. Die einstmals vornehme Konditorei war zu einer schlichten Bäckerei geworden, in der mangels Mehl nicht immer genug Brot gebacken werden konnte. Die beiden Söhne ihres Onkels und seiner Frau waren vermisst. So waren zwei Betten frei.
Gerda, sieben Jahre jünger als ihre Schwester Viola, war im Krieg mit der Kinderlandverschickung in das »luftkriegssichere« Pommern gebracht worden. Als die Front im Osten zusammenbrach, wurden die evakuierten Kinder Teil des riesigen Flüchtlingsstroms, der sich nach Westen wälzte. Gerda, inzwischen vierzehn, kam irgendwann im total zerstörten Köln an. Mehrere Tagesmärsche später – der Zugverkehr war endgültig zum Erliegen gekommen –,erreichte sie schließlich den Ort ihrer Kindheit. Das alte Haus, in dem ihre Familie gewohnt hatte, war bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Verstört, wie sie war, hatte sie sich im Keller des Hauses verkrochen, fand dort eine Matratze und eine Decke, legte sich darauf und schlief erschöpft ein. Sie konnte nicht wissen, dass sie im Bett ihrer Eltern schlief.
Dort fanden sie Helene und Willi Matussek. Sie hatten sich im Keller eingerichtet. Notunterkünfte gab es nicht mehr. Polizei und Ordnungsdienst, Verwaltung und Partei, niemand konnte mehr helfen. Willi Matussek hatte
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