Bußestunde
genommen. So musste es sein. Und das meiste deutete trotz allem darauf hin, dass er starb, als er sich mit diesem Jemand anlegte. Dass sein Hass ihn blind gemacht und dazu gebracht hat, zum ersten Mal irrational zu handeln.
Was zum Teufel konnte es sein, das diesen routinierten Spion und – ja, kein Zweifel – Berufsmörder dermaßen aus dem Konzept gebracht hatte? Was für eine übermenschliche Kraft hatte er da vor sich?
Paul Hjelm versank in Bachs überirdischen Harmonien. Es war so merkwürdig, dass dieser kleinbürgerliche Protestant die umwälzendste Musik der Weltgeschichte geschaffen hatte. Wie war das möglich? Er begriff das Geheimnis der Kunst noch nicht, das war ihm schmerzlich bewusst. Wie man aufgehen musste in seinem Werk und dass mit der Gewaltsamkeit eines Raubtiers Teile aus dem Künstler herausgerissen und in sein Werk geschleudert wurden. Was in der Außenwelt zurückbleibt, ist selten besonders imponierend.
Er blickte von Neuem über den Innenhof des Präsidiums. Seit der Sommersonnenwende und Mittsommer waren mehr als zwei Monate vergangen. Schweden ging schon lange dunkleren Zeiten entgegen.
Doch jenseits des Innenhofs brannten die Lampen des Fleißes. Er konnte nicht genau ausmachen, welche Fenster erleuchtet waren, doch es schienen fast alle zu sein. Angefangen bei Kerstin Holm die ganze Hierarchie hinunter. Als gäbe es eine Hierarchie.
Er fragte sich, was sie taten.
Dann kehrte er zu Tore Michaelis’ starken Seiten zurück. Sie wirkten nicht unüberwindlich stark.
Er suchte die schwachen.
Zwischen den Wänden hallte das Gloria aus Bachs h-Moll-Messe .
»Qui tollis peccata mundi, miserere nobis. Qui tollis peccata mundi, suscipe deprecationem nostram.«
»Der du trägst die Sünd der Welt, nimm an unser Gebet.«
18
»Auflösung spätestens am Jahresende«, dachte Kerstin Holm und ließ den Blick über Raum 300 im Polizeipräsidium von Stockholm schweifen, bekannter als Kampfleitzentrale, eine Bezeichnung, die so von Ironie durchtränkt war, dass sie zum jetzigen Zeitpunkt direkt traurig wurde.
Zehn schwere Jahre, zehn Jahre voller Sorgen und Rückschläge, voller Gewalt, die jeder Beschreibung spottete, voller ungeahnter Quantitäten menschlicher Bosheit – und zehn Jahre phantastischer Zusammenarbeit zwischen ziemlich gewöhnlichen Menschen, die mitten in der Hölle ihr Bestes gaben.
Sollte das alles jetzt wirklich zu Ende gehen?
Einen Moment lang wurde sie von starker und finsterer Melancholie befallen. Einer richtig altmodischen, vollkommen egozentrischen Verzweiflung. Was würde aus ihr werden, wenn die A-Gruppe aufgelöst würde? Wie würde sie in einer Gruppe mehr oder weniger prestigegeiler Machobullen überleben, die IQ für eine Rockgruppe hielten?
Aber in der gegenwärtigen Lage war Selbstmitleid fehl am Platz.
Sie spürte, dass sie sich Sentimentalitäten verbieten musste, zumindest bis auf Weiteres. Also räusperte sie sich und sagte wohlformuliert: »Den kostspieligen Überstundenabrechnungen von gestern zufolge brannte in unserem Korridor bis in die Nacht die Lampe des Fleißes. Jetzt würde ich gern wissen, worüber genau sie geleuchtet hat.«
Die versammelten Mitglieder der A-Gruppe tauschten Blicke untereinander aus. Auf Kerstin Holm machte es den Eindruck, als versuchten sie ganz einfach zu verstehen, was sie gesagt hatte. Sie lächelte verstohlen.
Und sie sahen es ihr an. Arto Söderstedt fiel es wie gewöhnlich schwer, ein verstohlenes Lächeln zu akzeptieren. »Wir haben ganz einfach zwei Fälle, die sich überkreuzen«, erklärte er.
Dann hielt er den Mund und versank in sich selbst.
»Es ist möglich, dass du diesen Gedanken etwas ausführlicher darlegen musst«, sagte Kerstin Holm, wohl wissend, dass sie keine Antwort erhalten würde.
»Wir können es auch so formulieren«, ergriff Lena Lindberg das Wort. »Es gibt vermutlich mindestens zwei Frauen in der Stadt, die gerade jetzt, während wir hier sitzen, gefoltert werden. Sie werden ziemlich bald an den Folgen der Misshandlungen sterben. Jede Sekunde, die wir nicht Überstunden machen, halte ich für ein Verbrechen.«
»Ich bin geneigt, dir zuzustimmen, aber genauso interessiert mich Artos Gedanke.«
Doch Arto war anscheinend nicht bereit, sich weiter zu äußern.
»Fangen wir stattdessen mit etwas ganz Handfestem an«, schlug Sara Svenhagen vor, wie um die Stimmung aufzulockern. »Es ist eine DNA-Antwort aus England gekommen.«
Sofort wurde es still in der Kampfleitzentrale.
»Wir
Weitere Kostenlose Bücher