Byzanz
die Begegnung nicht geträumt hatte. Dabei hätte es des Beweises eigentlich nicht bedurft, denn er neigte nicht dazu, an seinem Verstand zu zweifeln. Genügend Geschichten über Visionen hatte er gehört, angefangen von der des Paulus vor Damaskus, sodass er nicht tiefer über das seltsame Erlebnis nachdachte. So viel stand zumindest fest: Ihm war ein Auftrag erteilt worden von jemandem, der über den Menschen stand. Nicht der Inhalt des Auftrages, nur derjenige, der ihn in Wahrheit erteilt hatte, blieb ein Rätsel. Gott oder der Teufel oder etwas Drittes?
Auf dem kalten Waldboden sitzend, fühlte er sich zwar einsam, doch vermisste er nichts und niemanden, im Gegenteil – das Alleinsein wärmte ihn. Aber vielleicht ermöglichte die Einsamkeit erst wahre Größe. Ihn, Alexios Angelos, Spross eines Geschlechtes, dem einst Isaak Angelos die Kaiserwürde erkämpft hatte, schlug die Aufgabe, das Reich der Oströmer zu neuer Größe zu führen, in ihren Bann. Davon hatte er nicht einmal in seinen kühnsten Vorstellungen zu träumen gewagt, er, der Drittgeborene. Wer oder was sollte daneben noch Platz haben?
Wer die Einsamkeit als Geschenk anzunehmen vermochte, dachte Alexios, hatte sich von der Herdenhaftigkeit der Menschen befreit. Wer eine Welt im Inneren besaß, dem machte es nichts aus, auf sich selbst zurückgeworfen zu werden, denn er nahm inmitten einer Welt Platz. Derjenige aber, der wenig oder gar nichts in sich trug, der wurde bei dieser Vorstellung von Panik ergriffen, denn die Einsamkeit verwies ihn auf die Dürftigkeit der eigenen Person. Gnadenlos wurde er mit seinem Nichts, seiner Leere konfrontiert.
Nicht durch die Kaiser zu regieren, wie er immer geglaubt hatte, war ihm beschieden, sondern selbst als Kaiser die Menschen zu führen. Er war zum Herrschen geboren, dazu berufen, das Volk vor seinen Gegnern und vor seinem größten Feind, der es selbst war, zu beschützen.
Alexios steckte sich den Ring an den Finger, und siehe da – er passte, als ob er eigens für ihn angefertigt worden wäre.
Allzu große Euphorie würde er zu vermeiden suchen, beschloss er. Stattdessen musste er kühl, klug und geduldig vorgehen. Der Kuss hatte es ihn spüren lassen: Im Kampf um die Macht war der direkte Zug nur die Summe aller Winkelzüge. Dabei konnte es wahrlich nicht schaden, Eirene Palaiologina, die Tochter des Andronikos und damit die Enkelin des Kaisers, zu heiraten.
Der Hermaphrodit hatte recht, die Palaiologen waren alt, verbraucht, vertrockneter Samen. Es war an der Zeit, dass sie abtraten. Noch erschreckte Alexios die Konsequenz des Gedankens, doch wenn Xaviers Tod eines gezeigt hatte, dann dies: Sie würden alle einmal sterben, auch er selbst, ohne oder mit der Kaiserkrone auf dem Haupt. Alexios schüttelte sich und stand auf. Höchste Zeit, aufzubrechen und an die Arbeit zu gehen.
In Chalkedon wurde er von einer Barkasse, die ihn bereits erwartete, nach Konstantinopel übergesetzt. Er stand am Achterdeck und schaute auf die unruhige See. Der Sturm, der noch vor Tagen gewütet hatte, war erschlafft, aber das Wetter blieb windig und nass, das Meer aufgewühlt. Aus den Wasserschleiern tauchte der festungsartige Kasten des Bukoleon-Palastes auf, mit seiner Loggia und den Arkaden im oberen Teil, während die untere Fläche nur von kleinen schießschartenartigen Fenstern unterbrochen war. Hinter ihm, noch vom Nebel verdeckt, dösten die Ruinen des alten Kaiserpalastes, ein Zeichen vergangener Größe. Diesen Palast, in dem Justinian, der größte aller Kaiser, gewohnt und regiert hatte, würde er wiederherstellen lassen. Und auch das Senatsgebäude sollte wieder seine ursprüngliche Bestimmung erhalten. Der Niedergang hatte in seinen Augen mit dem Umzug der Kaiser in das Blachernenviertel am anderen Ende der Stadt begonnen. Mit dem Verlassen des Palastes, in dem einst Kaiser Justinian gelebt und geherrscht hatte, hatte man sich auch von alter Größe verabschiedet. Die Herrscher mussten wieder an ihren alten Ort neben Hagia Sophia und Hagia Eirene hinter das Hippodrom zurückkehren, an den Ort, von dem aus ihre Macht sich über das ganze Mittelmeer bis nach Persien erstreckt hatte. Bei diesem Gedanken fuhr sich Alexios unwillkürlich mit der Zunge über die Lippen. Den Geschmack des Kusses sollte er nicht mehr vergessen, nach ihm würde er sich fortan sehnen. Im nimmergrünen Wald des Todes hatte er unerwartet und überraschend zugleich die Liebe seines Lebens gefunden.
5
Kaiserpalast,
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