Byzanz
ist jetzt das eine und was das andere?«, fragte der Fremde.
»Halt, halt, halt, das wollen wir jetzt gar nicht wissen.« Bessarion lag daran, die Diskussion zu beenden.
Doch inzwischen hatte Anna zu viel Spaß an der kleinen Rangelei, als dass sie einfach aufgeben wollte, zumal sie auf der Siegerstraße war. »Wenn die Schafe und die Rinder enthaltsam leben, haben wir bald nichts mehr zu essen. Das ist das andere.«
»Der Mensch ist kein Tier. Er ist, wie Anaxagoras bemerkte, das Maß aller Dinge«, stellte Nikolaus von Kues gewichtig fest.
»Aber Gott ist unser Vater, und wir sind seine Kinder. Wollen wir ihn seiner Kinder berauben? Bedenkt, wenn der Mensch das Maß aller Dinge ist, würden wir den Dingen ihr Maß nehmen, wenn die Menschen keine Familie mehr gründen und aussterben.« Annas Augen blitzten triumphierend. Sie war stolz auf ihr Argument und erwartete, dass der Fremde das Gespräch nun beenden oder versuchen würde, sie abzukanzeln – schließlich war sie ja nur ein Mädchen.
Nikolaus von Kues stand auf, verneigte sich knapp vor ihr und sagte: »Du hast mich gelehrt, dass man auch einem jungen Mädchen gegenüber nicht leichtfertig ein halb durchdachtes Argument verwenden darf.«
Wieder stieg das Blut in Annas Wangen, doch diesmal nicht tiefrot und aus Zorn, sondern blassrot und aus Verlegenheit.
»Nun, sie ist ja auch meine Schülerin«, verkündete Bessarion, der es offensichtlich für an der Zeit hielt, sich wieder in das Gespräch einzumischen.
»Ich will euren Unterricht nicht weiter aufhalten, denn es ist nichts wichtiger, als belehrt zu werden«, sagte Nikolaus von Kues und wollte sich verabschieden.
»Wartet! Da Ihr in der Tat meinen Unterricht gestört habt und in der Tat von weit herkommt, sagt mir, wonach jagt Ihr?«, hörte sich Anna etwas gestelzt fragen, weil ihre Eitelkeit sie dazu getrieben hatte, sich möglichst gewählt auszudrücken. Zugleich wunderte sie sich über ihr Interesse.
Die Mundwinkel des Fremden zuckten. In seine Augen schlich sich eine jungenhafte Freude, die den warmen braunen Ton seiner Iris sichtbar werden ließ. »Jagen, was für ein schönes Wort! Jagen, so hätte ich es nie genannt, eher suchen, aber jagen trifft es viel besser. Wohlan, ich will es dir verraten, Anna, weil du mir gerade einen Ausdruck geschenkt hast. Ja, ich jage nach Weisheit, das ist meine größte Leidenschaft. Ich bin Philosoph.« Sie spürte seinen wohlwollenden Blick. Offensichtlich freute er sich wirklich über diesen Begriff. »Die Philosophen sind ja nichts anderes als Jäger nach Weisheit, nach der jeder im Lichte der ihm angeborenen Logik in seiner Weise forscht«, setzte er hinzu.
»Jeder nach seiner Weise, sagt Ihr, dann hat jeder seine eigene Weisheit, seine eigene Wahrheit? Ich habe bei Bessarion gelernt, dass es nur eine Weisheit gibt, weil es nur eine Wahrheit gibt. Was stimmt denn nun?«, fragte Anna.
»Bei Anna muss man vorsichtig sein, sie ist eine kleine Sophistin. Brechen wir unseren kleinen Disput ab«, schlug der Mönch vor.
»Wie Ihr wünscht, aber ich möchte gern noch ihre Frage beantworten«, sagte Nikolaus von Kues.
»Nur, wenn Anna verspricht, keine Gegenfrage mehr zu stellen. Versprichst du das, Anna?«
Anna nickte notgedrungen.
»Bessarion hat recht, es gibt nur eine Weisheit und auch nur eine Wahrheit, sozusagen eine Ur-Weisheit. Aber wir nähern uns auf verschiedenen Wegen, durch unterschiedliche Vorstellungen der Ur-Weisheit. Nimm einen Amethyst und halte ihn in die Sonne, und er wird seine Farbe verlieren. Lege ihn ins Dunkle, und er wird sie wiederbekommen. Und doch ist er derselbe Stein! Adam und Eva waren die ersten Weisen, die ersten Philosophen, die ersten Schriftsteller – nenne es, wie du willst. Sie haben ihre Sünde bereut, und Gott hat ihnen verziehen. Danach hat er ihnen diese Ur-Weisheit offenbart, und sie haben diese an ihre Kinder und diese wiederum an ihre Kinder weitergegeben. Vieles ist verloren gegangen, einiges wurde wiederentdeckt durch Hermes Trismegistos, der sein Wissen Platon übergab. Ich jage wirklich nach Weisheit, denn ich suche nach den Büchern, in denen Platon seine geheime Lehre niedergelegt hat, und hoffe auf die Unterstützung des verehrten Bessarion bei dieser Jagd, bei der es auch um Schriften geht.«
»Habt Ihr deshalb …«
»Denk an dein Versprechen, Anna!«, schalt sie Bessarion bei aller Zuneigung streng.
Das Mädchen blickte zu Boden. Jetzt, wo es interessant wird, bricht Bessarion einfach ab,
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