Casteel-Saga 02 - Schwarzer Engel
bemerkenswerte Menge männlicher Fürsorge an den Tag. Unterdessen hatte Unsere-Jane ihr kindliches Verhalten, das ihr in der Vergangenheit so viel Beachtung gesichert hatte, beibehalten.
Ich betete, keiner möge kommen, um mich nach dem Grund meines Hierseins zu fragen.
Die Geschichte von David ging zu Ende. Ich lauschte den folgenden Fragen und Antworten und hörte, wie die süße, zarte Stimme von Keith immer erst dann antwortete, wenn er direkt aufgerufen wurde. Dagegen hob Unsere-Jane ständig ihre kleine, zierliche Hand und war versessen darauf, ihre Frage oder ihre Antwort loszuwerden. »Wie konnte denn ein kleiner Stein einen gewaltigen Riesen töten?« fragte sie. Auf die Antwort der Lehrerin hörte ich nicht.
Das aufgeregte Geschnatter der aufbrechenden Kinder hätte beinahe übertönt, was Unsere-Jane danach sagte, aber meine Ohren waren für ihre Stimme geschärft.
»Schnell, Keith!« drängte sie. »Wir gehen am Nachmittag zu Susans Party, und wir dürfen uns doch nicht verspäten.«
In einigem Abstand folgte ich den beiden Kindern, von denen ich sooft geträumt hatte. Eifersüchtig sah ich zu, wie sich Unsere-Jane in Rita Rawlings ausgebreitete Arme warf. Lester Rawlings stand, fett und kahl wie je, knapp hinter seiner Frau. Wie besitzergreifend legte er eine Hand Keith auf die Schulter, ehe er den Kopf drehte und mich direkt ansah. Über drei Jahre waren vergangen, seit er mich gesehen hatte. Damals hatte ich mich an die Wand der Berghütte gedrückt, mit dreckigen, zerlumpten Kleidern und barfuß. Trotzdem schien er mich wiederzuerkennen. Von dem verwahrlosten Kind war ich meilenweit entfernt, aber immer noch kannte er mich. Vielleicht hatten mich die Tränen, die mir übers Gesicht liefen, verraten. Er sagte irgend etwas zu seiner Frau, die die beiden Kinder in einen Cadillac drängte. Dann lächelte er mich mit offensichtlicher Sympathie an.
»Ich danke Ihnen«, sagte er schlicht.
Zum zweiten Mal in meinem Leben beobachtete ich, wie der Rechtsanwalt und seine Frau in einem Cadillac wegfuhren und zwei Teile von mir selbst mitnahmen. Ich starrte ihnen nach, bis der leichte Regen verdampft war, die Sonne wieder strahlend heiß schien und sich ein Regenbogen über den Himmel spannte. Erst dann ging ich langsam auf mein eigenes Auto zu, das immer noch wartete. Noch nicht, noch nicht, ertönte irgendeine leise Stimme warnend in mir. Später kannst du auf sie Ansprüche haben. Trotzdem wies ich meinen Fahrer an, dem dunkelblauen Cadillac vor uns zu folgen, denn ich wollte unbedingt das Haus sehen, in dem die Familie Rawlings lebte. Nach einer zehnminütigen Fahrt bog der Cadillac vor uns in eine stille Straße, die von Bäumen gesäumt war, und kam dann in einer langen, gebogenen Auffahrt zum Stehen. »Halten sie an der Straße gegenüber«, befahl ich meinem Fahrer in dem Glauben, der dunkle Schatten und die vielen dicken Baumstämme würden die Limousine verstecken, falls sich die Familie Rawlings zufälligerweise umsehen würde, ob ihnen jemand folgte. Offensichtlich taten sie’s nicht.
Sie besaßen ein hübsches Haus im Kolonialstil, groß, aber nicht so riesig wie Farthinggale Manor. Die roten Ziegelsteine waren schon alt und zum Teil mit Efeu überwachsen, die Rasenfläche war groß und gut gepflegt, mit Blumen und Sträuchern in vollster Sommerblüte. Ach, im Vergleich zu der hoch am Berghang klebenden Hütte war das tatsächlich ein Palast. Es gab keinen Grund, warum mir das Herz schwer wurde. Hier hatten sie es besser, auf alle Fälle, unbedingt. Sie brauchten mich nicht, jetzt nicht. Vor langer Zeit schon hatten sie aufgehört, meinen Namen auszusprechen, sicherlich hatten sie auch keine schlechten Träume mehr. Ach, diese nächtlichen Schreie vor Hunger, die ich vom ebenerdigen Strohsack der zwei Kinder immer gehört hatte! Einmal hatte ich gedacht, sie gehörten mir.
»Hevlee, Hevlee, wo gehst’n hin?« hatten sie gefragt, nachdem ihre eigene Mutter sie im Stich gelassen hatte. Ihre umschatteten Augen flehten mich an, sie nicht zu verlassen.
»Möchten Sie jetzt ins Hotel zurückfahren, Miss?« fragte mein Fahrer, nachdem eine halbe Stunde vergangen war. Aber ich konnte mich einfach nicht losreißen.
Kurzentschlossen öffnete ich die Tür und betrat den Gehsteig. »Warten Sie hier auf mich, ich bin in ein paar Minuten zurück.« Ich brachte es nicht fertig, wegzufahren, ohne mehr zu sehen, ohne mehr zu wissen. Nicht nach all den Schmerzen, die ich seit dem grauenvollen Tag, an dem
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