Cherubim
zuwendest.«
»Das Gebet, das du immer sprichst, ist mir viel zu lang!« Mirjam rief sich die vielen Worte ins Gedächtnis. »Höre, Israel«, murmeltesie. »Der Herr ist unser Gott. Der Herr ist einzig.« Und dann ging es weiter mit: Gepriesen sei Gott. Den Rest hatte sie vergessen.
»Das ist doch schon gar nicht so übel«, meinte Vater. »Weißt du, was ich für dich tun werde? Ich werde aus dem Gebet einige Sätze raussuchen, die du dir gut merken kannst. Die kannst du dann abends sprechen, wenn es an der Zeit dafür ist.«
»Ein Gebet ganz für mich allein?« Mirjam spürte, wie Freude durch ihren Körper perlte.
Vater nickte. »Weißt du denn auch, wann du es sprechen musst?«
»Wenn man drei Sterne am Himmel sehen kann.« Das hatte sie längst begriffen. Es gab feste Zeiten für jedes einzelne Gebet, für jede Handlung, die ein frommer Jude ausführen musste.
Sie wollte so gern eine fromme Jüdin sein!
»Hervorragend! Komm morgen wieder zu mir. Dann werde ich dir dein eigenes Gebet beibringen, ja?«
Eifrig nickte Mirjam.
»Schön! Und jetzt lass mich meine Pflicht tun. Adonai wartet schon auf mein Gebet.« Vater beugte sich zu Mirjam herunter und gab ihr einen Kuss auf die Haare.
Sie schlang ihre Arme um seinen Hals. »Ich hab dich so lieb!«, rief sie aus.
»Ich dich auch, meine Kleine. Ich dich auch!«
Die Worte ihres Vaters verhallten in Marias Gedächtnis, und plötzlich stiegen ihr Tränen in die Augen. Unangenehm drangen Feuchtigkeit und Kälte der Verliesmauern in ihren Körper ein, doch sie rückte nicht von der Wand ab.
»Es ist wichtig, Prinzessin, dass wir den Glauben der anderen Menschen respektieren. Sie sind ebenso wie wir der Meinung, dass sie zu dem einzig wahren Gott beten.« Auch das hatte ihr Vater ihr einmal gesagt.
»Aber sie irren sich doch!«, hatte sie widersprochen.
Und Vater hatte ernst genickt. »Das tun sie, aber dennoch dürfen wir deshalb nicht auf sie herabsehen. Adonai hat die Juden als sein Volk ausersehen, aber er hat alle Menschen erschaffen.«
Diese Erinnerung brachte Maria in ihrem Verlies zum Lachen.
»Was ist los?« Der Eisenmeister streckte den Kopf aus seinerKammer und starrte sie mit einer Mischung aus Verdruss und Scheu an.
Sie wusste, was ihn beschäftigte. »Keine Angst«, murmelte sie, »ich kann Euch nicht verhexen!«
Er schien nicht beruhigt. »Warum lachst du dann? Du führst doch etwas im Schilde!«
Unten vor dem Turm wurden Stimmen laut. Verzerrt drangen sie durch die dicken Mauern, in denen die Fensteröffnungen wie Schießscharten wirkten.
Der Kopf des Eisenmeisters ruckte herum. Lauschend verharrte er, doch er schien nicht verstehen zu können, was gesprochen wurde, denn er runzelte nachdenklich die Stirn.
Maria hingegen erfasste einzelne Worte, wie »vorwärts« und »nur Mut!«
Der Eisenmeister nutzte die Gelegenheit, um vor ihrer Nähe zu fliehen. So rasch er es mit seinem lahmen Bein vermochte, hinkte er die Treppen nach unten. Er murmelte dabei in einem fort vor sich hin, bis er unten angekommen war.
Maria wartete einen Augenblick, dann hörte sie, wie der Riegel der Eingangstür zurückgezogen wurde.
Jemand sagte etwas, aber er schien zu tuscheln. Sie konnte nicht ausmachen, um was es ging. Dann antwortete der Eisenmeister, aber auch seine Stimme war nur ein dumpfes Gemurmel.
Es folgte ein schwerer Schlag, der klang, als sei die massive Eingangstür gegen die Wand gekracht.
Dann ein lauter Ruf: »Hinauf! Die Hexe befindet sich ganz oben!«
Maria stemmte sich auf die Füße. So gut es ging, drängte sie sich gegen die Mauer in ihrem Rücken, doch sie ahnte bereits, dass ihr das nichts nützen würde. Ihre Zelle besaß keinen Winkel, in dem sie sich verbergen konnte. Keinen Fluchtweg, der Rettung bieten mochte.
Sie hörte, wie sich laut polternde Schritte näherten. Ein Schlüsselbund klirrte.
Dann erschienen die ersten beiden Männer auf der oberen Etage. Wild sahen sie aus, überaus streitlustig, und die gezogenen Schwerterin ihren Händen ließen Maria einen eisigen Schauer über den Rücken laufen.
»Adonai hilf!«, flüsterte sie. Ihre Handflächen lagen flach auf der rauen Mauer hinter ihr, und sie presste sie so fest dagegen, dass sich das Gestein in ihr Fleisch grub. Eine dumpfe Ahnung sagte ihr, dass diese Empfindung eine der letzten sein würde, die ihr noch blieben, und rasch schob sie die Hand in den Rock, um nach Mimi zu tasten.
Als Richard und Arnulf den Turm erreichten, stand die Tür bereits
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