Clara
Sie ging über den weichen Teppich hin zu der Stelle, wo sich das
Versteck verbarg. Kniete nieder und drückte gegen das Holz. Ein kleines Türchen
öffnete sich. Clara fasste hinein und nahm einen Umschlag heraus. Er war mit
ihrem Namen versehen. Sie öffnete ihn, zog ein Blatt Papier hervor, setzte sich
aufs Bett und begann zu lesen.
» Clara,
mein Liebes!
Ich danke
unserem Schöpfer, dass du diese Nachricht nun in den Händen hältst. Ich war dir
eine schlechte Mutter, und ich will dich dafür um Verzeihung bitten. Große
Worte waren nie meine Sache, und darum will ich mich auch nun kurzfassen . Ich möchte nur, dass du weißt, wie sehr ich
dich liebe. Es ist mir so spät klar geworden. Zu spät. Und darum habe ich auch
gezögert, es zu tun. Aber nun nicht mehr. Ich habe dein Ohr unter dem großen
Lindenbaum begraben. Lass es dort in Frieden ruhen .
Diese widerlichen Briefe und Filme mit dir habe ich vernichtet. Niemand soll
das sehen. Verzeihe mir, aber es hat mich unendliche Überwindung gekostet,
diesen Entschluss zu fassen. Doch es war letztlich die richtige Entscheidung.
Versuche, glücklich zu werden. Nicht so zerrissen, wie ich es war. Versuche,
Liebe in dir zuzulassen. Ich weiß, wie sehr du nach all diesen Entwürdigungen
verletzt sein musst. Aber blicke nicht zurück. Sieh nach vorne. Und horche auf
dein Herz. Ich liebe dich. Mama. «
Clara legte
sich der Länge nach hin und begann, hemmungslos zu weinen. Ihre Mutter hatte
sich getötet, damit sie leben konnte. Mutter hatte ein Video der Vergewaltigung mitansehen müssen. Wurde in den Tod getrieben. Mit
Briefen, die dies forderten. Nur die Sache mit ihrem Ohr war ihr nicht ganz
klar. Aber sie konnte sich auch das zusammenreimen. Es war Burgers Ohr. Michael
hatte es als ihres ausgegeben und ihre Mutter damit erpresst. Clara war am
Boden zerstört. Doch es war nicht das Perfide an dieser Tat, das sie
zusammenklappen ließ. Es war ihre eigene Ignoranz. Ihre Haltung gegenüber ihrer
Mutter. Sie hatte ihr Leben aufgegeben. Um sie zu beschützen. Und es würde
niemals die Gelegenheit kommen, ihr dafür zu danken. Für diese Liebe, die Clara
so lange nicht verspürt hatte. Sie weinte weiter. Es klopfte an der Tür. Clara
steckte rasch den Brief ein. Ihr Hausarzt trat ein. Dr. Fenninger .
Ein älterer, netter Herr. Sie kannte ihn, solange sie sich entsinnen konnte. Er
nahm neben ihr am Bett Platz. Clara richtete sich auf und umklammerte ihn. Sie
brauchte jetzt irgendeinen Menschen, an dem sie sich festhalten konnte. Wie
reißende Ströme schossen ihr die Tränen über die Wangen. Der Doktor wirkte
beruhigend auf sie ein. Ihre Eltern waren tot. Beide. Und sie fühlte sich
schuldig. Fühlte das endlose Leid, das sie über sie gebracht hatte. Die Stiche,
die in ihre Herzen versenkt wurden. Michael hatte das Messer geführt. Doch
zugestoßen hatte sie selbst. Das glaubte sie zumindest in diesem Moment. Nicht
fähig, sich vorzustellen, dass alles noch viel schlimmer kommen würde.
4
Clara war
ganz in Schwarz gekleidet. Schwarze Schuhe, schwarze Strümpfe, schwarzer Rock,
schwarzer Rolli. Nur ihr Mund war rot. Ihre Haut weiß und ihr Haar blond. Es
wallte durch den leicht aufkommenden Wind an diesem Sommervormittag. In Thomas’
Arm eingehakt, schritt sie vom Grab ihrer Eltern. Sie hatte ganz für sich
Abschied genommen. Nochmals alles durchlebt. Thomas hatte sich wie viele andere
auch bei ihr gemeldet. Aber nur bei ihm verspürte sie die echte Aufrichtigkeit
seiner Worte. Es war diese sanfte, weiche Stimme, die ihr das verriet. Also
hatte sie ihn gebeten, sie bei diesem Gang zu begleiten. Als sie am Parkplatz
anlangten, warteten dort schon die Reporter. Sie hatte sich noch immer nicht
öffentlich zu den Ereignissen geäußert. Hatte nur durch den Familienanwalt ein
Communiqué veröffentlichen lassen, das weitgehend ihre polizeiliche Aussage
wiedergab und mit einigen wenigen persönlichen Anmerkungen schloss. Mehr wollte
sie nicht preisgeben. Die Medien hatten sie lange genug am Gängelband
vorgeführt. Damit sollte nun Schluss sein. Sie hatte am eigenen Leib verspürt,
wohin all das münden konnte. Thomas führte sie durch die lauernde Menge,
öffnete ihr die Autotür und fuhr schließlich schroff von dannen. Während der
Fahrt zurück zum Bergmann’schen Anwesen sprach er sie darauf an.
»Du wirst
dich über kurz oder lang mit ihnen auseinandersetzen müssen. Sonst geben die
nie Ruhe .« Clara lächelte ihn leicht an.
»Bist ja ein
wahrer
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