Commissario Montalbano 09 - Die dunkle Wahrheit des Mondes
zu Dottor Tommaseo, dem Ermittlungsrichter. Zum Glück konnte meine Tante … Was gibt's?«
»Kennen Sie Fanara?«
»Den Ort? Ja.«
»Wissen Sie, wer in der Via Libertà 82 wohnt?«
Stille, keinerlei Antwort. »Hallo, Michela?«
»Ja, ich bin hier. Es ist nur, dass Sie mich jetzt überrumpelt haben … Ja, ich weiß, wer in der Via Libertà 82 wohnt.«
»Dann sagen Sie's mir.«
»Tante Anna, die andere Schwester meiner Mutter. Sie ist gelähmt. Angelo ist… Er war sehr eng mit ihr verbunden. Immer, wenn er in Fanara war, ging er sie besuchen. Aber wie haben Sie erfahren…«
»Reine Routine, glauben Sie mir. Aber ich hätte natürlich noch verschiedene andere Fragen an Sie.«
»Sie können heute Nachmittag herkommen.«
»Da bin ich beim Polizeipräsidenten einbestellt. Morgen Vormittag, wenn Sie nichts dagegen einzuwenden haben.«
Er verließ eilig das Büro, setzte sich ins Auto und fuhr los. Er hatte beschlossen, noch einmal einen Blick in Angelos Wohnung zu werfen. Wieso? Weil sein Instinkt ihm das befahl.
Er ging durch die Haustür, stieg die stille Treppe des toten Hauses hoch, öffnete ohne jedes Geräusch vorsichtig die Tür von Angelos Wohnung, um nicht zu riskieren, dass Seine Majestät Vittorio Emanuele III. plötzlich mit einem Messer in der Hand aus seiner Wohnung trat und es ihm in den Rücken stieß. Er begab sich ins Arbeitszimmer, setzte sich hinter den Schreibtisch und fing an zu denken. Wie üblich spürte er, dass irgendetwas nicht stimmte, aber es gelang ihm nicht, es in den Fokus zu rücken. Da stand er auf und begann, durch die Wohnung zu streifen. Im Wohnzimmer angelangt, öffnete er schließlich den Laden der Balkontür und trat hinaus.
Auf der Straße, genau vor der Haustür, hatte ein offenes Auto gehalten, und zwei junge Leute, ein junger Mann und ein Mädchen, küssten sich. Sie hatten die Musik des Radios oder was es sonst war auf volle Lautstärke aufgedreht. Montalbano machte einen Satz zurück. Nicht, weil er sich über das empört hätte, was er da sah, sondern weil er endlich begriffen hatte, weshalb er den Drang verspürt hatte, in die Wohnung zurückzukehren.
Er ging wieder ins Arbeitszimmer, setzte sich, suchte aus Angelos Schlüsselbund den richtigen Schlüssel aus, öffnete damit die mittlere Schublade, nahm das Heftchen mit dem Titel Die schönsten italienischen Kanzonen aller Zeiten und blätterte es durch.
»Signorinella pallida / dolce dirimpettaia del quinto piano … Kleines, blasses Fräulein, Sie, / süßes Gegenüber vom fünften Stock…«
»Oggi la carrozza può sembrare / un curioso avanzo dell' antichità … Heute wirkt die Kutsche wie / ein seltsam Überbleibsel aus alter Zeit…«
»Non dimenticar le mie parole / bimba tu non sai cos'è l'amor … Vergiss meine Worte nicht / Bimba, du weißt noch nicht, was Liebe ist…«
Das waren Kanzonen, die auf die Vierziger- und Fünfzigerjahre zurückgingen. Vielleicht war er, Montalbano, noch gar nicht geboren, als sich noch jemand an diese Liedchen erinnerte. Und, ganz wichtig, oder wenigstens schien es ihm so, sie hatten gar nichts zu tun mit den Rockmusik-Kassetten aus dem Mercedes.
Acht
An den engen weißen Rand jeder Seite des Heftchens waren Zahlen geschrieben. Als er sie das erste Mal gesehen hatte, war es dem Commissario vorgekommen, als handele es sich bei ihnen um eine metrische Analyse. Jetzt wurde ihm jedoch klar, dass die Zahlen nur die ersten beiden Verse jeder Kanzonette betrafen. Neben Signorinella pallida / dolce dirimpettaia del quinto piano standen jeweils die Zahlen 19 und 31 geschrieben, neben Oggi la carrozza può sembrare/un curioso avanzo dell'antichità die Zahlen 25 und 28, während Non dimenticar le mie parole / bimba tu non sai cos'è l'amor den Zahlen 24 und 22 entsprachen. Und so fort bei allen anderen siebenundneunzig Kanzonen, die in dem Heft abgedruckt waren. Die Lösung kam ihm erschreckend einfach vor: Diese Zahlen waren die Summe aller Buchstaben, aus denen die Wörter der Verse bestanden. Ein Code, ganz offensichtlich. Komplizierter war es da schon zu verstehen, wozu das diente. Er steckte das Heftchen in seine Tasche.
Montalbano war im Begriff, in die Trattoria da Enzo zu gehen, als er hörte, dass er gerufen wurde. Er blieb stehen und drehte sich um. Elena Sclafani stieg gerade aus einer Art offenem rotem Torpedo, den sie soeben geparkt hatte. Sie trug einen Jogginganzug und ein Paar Turnschuhe, das lange Haar, das von einem blauen Band knapp über ihrer Stirn
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