Confusion
die Statuen
hatten eine frostige Patina angenommen, die ihr Muskelspiel und ihre fließenden Gewänder scharf hervortreten ließ. Es war so still wie auf einem Friedhof, denn nachdem die Arbeiter die halbe Nacht geschuftet hatten, um Strohwälle gegen die einfallende Kälte zu errichten, schliefen sie allesamt aus.
Es war recht schön, zumal als die Sonne über den Hügeln am anderen Ufer der Seine aufging und den ganzen Frost mit einem kühlen, pfirsichfarbenen Licht durchdrang. Aber dass Frankreich im September von einer solchen Kälte heimgesucht wird, ist natürlich monströs – vergleichbar einem Kometen oder einem Säugling mit zwei Köpfen. Der Frühling kam dieses Jahr spät. Frankreichs Hoffnungen auf eine angemessene Ernte ruhten auf einem langen, warmen Herbst. Sosehr ich die Schönheit jener frostüberzogenen Rosen bewunderte, wusste ich doch, dass Getreide, Äpfel, Reben und Gemüse überall im Lande das gleiche Schicksal erlitten haben mussten. Ich ließ meiner Dienerschaft bestellen, sie möge sich auf eine frühe Abreise einrichten, und verweilte dann nur noch lange genug in Monsieur Rossignols Schlafkammer, um ihm einen denkwürdigen Abschied zu bereiten. Nun befinden wir uns – wie Ihr schon an meiner erbärmlichen Schrift erkannt haben dürftet – in der Kutsche und rattern am linken Ufer entlang nach Paris hinein.
Während meines früheren Lebens hier wäre ich außer mir gewesen, denn dieser frühe Frost hätte die Warenmärkte in heftigen Aufruhr versetzt, und es wäre von höchster Wichtigkeit für mich gewesen, Anweisungen nach Amsterdam zu schicken. Wie die Dinge nun liegen, reichen meine Pflichten tiefer, sind aber weniger unmittelbarer Natur. Geld läuft und wogt auf höchst undurchschaubare Weise durch das Reich. Man könnte wohl eine bemühte Analogie bilden – Paris ist das Herz und Lyon die Lunge oder etwas in dieser Art -, allein, das System funktioniert nicht, und Geld fließt erst, wenn Menschen es arbeiten lassen, und ich bin einer dieser Menschen geworden. Zuerst arbeitete ich hauptsächlich für die Compagnie du Nord, die baltisches Bauholz nach Dünkirchen importiert. Dadurch erfuhr ich mehr, als ich eigentlich wissen wollte, darüber, wie le Roi den Krieg finanziert. Seit einiger Zeit bin ich außerdem in ein Vorhaben von Monsieur le Duc d’Arcachon verwickelt, dessen Details bis heute vage sind. Letzteres führte mich auch nach Lyon; denn dorthin
reiste ich im August, und zwar in Gesellschaft des Herzogs persönlich. Er quartierte mich in einem pied-à-terre ein, das er in jener Stadt unterhält, und reiste dann weiter nach Marseille, wo er vorhatte, sich auf seiner Jacht nach südlichen Breiten einzuschiffen.
Wir erreichen bereits die Universität, wir kommen zu schnell voran, die Straßen sind leer, als trauerte die ganze Stadt um die verlorene Ernte. Alles ist wie festgefroren, außer uns, die wir uns rasch bewegen, um nicht ebenfalls zu erstarren. Bald werden wir den Fluss überqueren und das hôtel particulier von Arcachon erreichen, und ich bin noch gar nicht zu den wichtigen Punkten meines Briefes gekommen. Dann also rasch:
Was hört Ihr von Sophie betreffs Lieselotte oder, wie sie hier angesprochen wird, Madame? Vor zwei Jahren standen sie und ich uns einige Wochen lang sehr nahe. Ich wäre sogar bereit gewesen, mit ihr ins Bett zu gehen, wenn sie mir einen entsprechenden Wink gegeben hätte; doch entgegen vielen schwülen Gerüchten ist es nie dazu gekommen – sie wollte mich als Spionin, nicht als Liebhaberin. Seit ich nach Versailles zurückgekehrt bin, haben sie und ich keinerlei Kontakt gehabt.
Sie ist ein einsamer Mensch. Ihr Mann, der Bruder des Königs, ist homosexuell, und sie ist lesbisch. So weit, so gut; doch wo Monsieur sich so viele Liebhaber gönnt, wie er möchte, muss Madame heimlich Liebe finden. Denn Monsieur begehrt Madame zwar nicht, ist aber eifersüchtig auf sie und verfolgt und vertreibt ihre Liebhaberinnen.
Wenn man dem Hofklatsch Glauben schenken kann, so war Madame in den letzten Jahren der Dauphine nahegekommen. Das soll nicht heißen, dass sie ein Liebespaar waren, denn die Dauphine hatte eine Affäre mit ihrer Zofe, einer Piemonteserin, und es hieß, sie sei ihr völlig treu. Aber da sich gleich und gleich gern gesellt, hatten Madame, die Dauphine, die Zofe und noch ein paar gleichgesinnte Frauen eine kleine Clique gebildet, deren Mittelpunkt das Privatkabinett in der Wohnung der Dauphine gleich neben der sonderbaren kleinen
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