Dark Angels' Winter: Die Erfüllung (German Edition)
Weißdornhecken.
Mum wirkt bedrückt, aber entschlossen. Der gerade Weg führt auf das Tor zu, dort warten vier Personen auf uns. Indie seufzt. Es sind Jools und Felicia Armengol, Marie Esperance und eine vierte Frau, die ich noch nie gesehen habe. Sie ist klein und gebeugt mit dunklem, wirrem Haar. Tausende von Runzeln überziehen ihr sonnenverbranntes Gesicht. Als wir direkt vor ihr stehen, sehe ich, dass ihre Augen hell und wässrig sind. Sie ist blind.
»Na, hattet ihr Sehnsucht?«
Ich gebe Indie einen Stoß und Felicia und Jools schütteln synchron den Kopf. Marie Esperance bedeutet mir, die Tasche abzustellen.
»Wir haben keine Zeit«, sage ich und kämpfe gegen einen Kloß im Hals an. Ich ertrage Marie Esperances Blick nicht, er ist freundlich und offen. »Die Comtesse wartet auf uns.«
»Wir haben auf Whistling Wing noch ein paar Dinge zu erledigen.« Auch Indies Stimme ist seltsam spröde.
»Marie, es fällt mir so unendlich schwer …« Mums Stimme bricht.
»Nur ein paar Sekunden.« Marie hebt ihre Hand, um uns aufzuhalten. »Wir haben die Alte, die ins Meer blickt, um Hilfe gebeten.«
Wir sehen sie fragend an.
»Dann könnt ihr fahren. Aber wir müssen es wissen.« Die Alte kommt einen Schritt näher. Sie kramt in einem Beutelchen, das an ihrem Gürtel befestigt ist, dann wirft sie etwas zwischen uns auf den Boden. Es könnten Knöchelchen sein oder kleine, vom Meer ausgebleichte Steinchen. Sie fallen in einem seltsamen Muster vor unsere Füße und die Alte stößt einen gurgelnden Laut aus. Ich starre in ihr wirres, verfilztes Haar und auf ihren knotigen Rücken. Ihre Augen sind trübe und gleichzeitig klar und wissend, doch die fehlenden Pupillen, lassen sie unheimlich aussehen. Sie kauert sich vor uns auf den Boden und lässt ihre Hände über die Knöchelchen gleiten, verrückt dort eines und auf der anderen Seite ein zweites. Das alles geschieht, ohne dass sie einen weiteren Ton von sich gibt. Dann spuckt sie genau in die Mitte. Es zischt und sie verreibt die Spucke in der Erde. Felicia und Jools verschränken ihre Arme vor der Brust. Sie wirken angespannt, als wüssten sie nicht, was sie sich von dieser Begegnung erhoffen sollen.
Die Alte richtet sich wieder auf, jetzt sind ihre Augen fast weiß, erschrocken will ich zurückweichen, doch dann bleibe ich stehen und lasse zu, dass sie mit ihren rauen Händen erst über mein Gesicht streicht, dann über Indies.
»Und?«, fragt Marie Esperance atemlos. »Sind sie es? Sind sie die Geweissagten?«
Die Alte wendet sich ab und nickt.
Marquessac, 2. Juli 2013
S ie kann über die Dummheit der Menschen nur lachen. Zeichen brauchen sie. Beweise. Sie urteilen vorschnell, immer die Angst im Nacken. Sie nehmen sich nicht die Zeit, genau hinzusehen. Lilli-Thi hat Zeit. Denn Lilli-Thi ist unsterblich.
Hoch oben in den Türmen des Klosters hockt sie und der Wind bläht ihr Gefieder, sie sieht zu, wie die Alte über die Gesichter der Mädchen streicht und wie die Mädchen danach mit ihrer Mutter zum Wagen hinunterlaufen. Der Kiefernwald verbirgt ihre Silhouetten und Lilli-Thi wendet sich dem Meer zu. Selbst das Meer ist endlich. Doch Lilli-Thi ist es nicht. Sie hat die Hüterinnen kommen und gehen sehen. Mit einigem Erstaunen hatte sie die Geburt der Mädchen verfolgt, die Mutter geschwächt im Kissen eingenickt, hatte sie sich zu dem älteren Mädchen hinuntergebeugt, das hellwach in den Armen seiner Mutter lag.
»Sie ist es«, hatte sie geflüstert.
Die Kleine hatte sie angesehen, als würde alle Weisheit dieser Welt hinter ihren Augen lauern, und Lilli-Thi durchfuhr ein eisiger Schrecken. Sie hob ihre Hand, um sie an sich zu nehmen. Niemand würde davon erfahren. So viele Kinder starben, warum nicht sie? Es wäre so einfach gewesen, sie zu töten. Es wäre so einfach gewesen, die Geschichte zu verändern.
»Lilli-Thi würde frei sein«, sagte sie zu sich selbst. »Lilli-Thi könnte wieder tun und lassen, was sie will.«
Der Blick des Kindes bannte sie, und als sie dessen zarte Haut berührte, zuckte sie zurück. Sie dachte an Samael und sein Versprechen. Sein Versprechen, sie gehen zu lassen, wenn das hier vorbei war. Es konnte gleich vorbei sein. Sofort. Sie hätte ihm die schlechte Nachricht überbracht, aber das hätte ihr nicht ihre Kraft zurückgegeben. Um von der Erde fliehen zu können, musste sie das Mädchen am Leben lassen und auf den Tag warten, an dem sich die Prophezeiung erfüllen konnte.
Von draußen hörte sie Schritte, Schritte
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