Das Bernstein-Teleskop
die Stimme dieses Vogels klang anders als die aller Geschöpfe der Welt, in der sie sich nun befanden. Irgendwo aus der Dunkelheit kam ein trillernder Gesang und dann antwortete eine andere Stimme von anderswoher. Entzückt sprangen Will und Lyra auf und hielten nach den Sängern Ausschau, doch konnten sie nur ein paar dunkle Schatten erkennen, die tief über den Strand segelten, wieder emporstiegen und dazu ihr Lied in hellen Glockentönen und mit immer neuen Modulationen erklingen ließen.
Dann landete nur wenige Schritte von ihnen entfernt der erste Vogel mit ein paar Flügelschlägen, die den Sand vor ihnen aufwirbelten.
»Pan?«, sprach ihn Lyra an.
Er hatte die Gestalt einer Taube mit dunklem Gefieder, wenn auch die Farbe im Mondlicht schwer zu erkennen war. Die Konturen hoben sich vor dem hellen Sand deutlich ab. Der andere Vogel kreiste immer noch singend über ihnen, bis auch er herabflog und sich neben den ersten setzte: eine weitere Taube, eine perlweiße Täubin mit dunkelroten Kopffedern.
Nun wusste auch Will, was es hieß, seinen Dæmon zu sehen. Als die Täubin auf den Sand herabflog, spürte er, wie sich sein Herz erst verkrampfte und dann wieder löste. Das würde er nie vergessen. Auch noch nach über sechzig Jahren, als alter Mann, fühlte er bestimmte Erinnerungen frisch wie beim ersten Mal: wie ihm Lyra unter dem golden und silbern glänzenden Baum mit den Fingern die Frucht zwischen die Lippen schob; wie ihr warmer Mund gegen seinen drückte; wie ihm sein Dæmon von der ahnungslosen Brust weggerissen wurde, als er mit Lyra die Welt der Toten betrat; und die süße Genugtuung, als sein Dæmon auf den mondbeschienenen Dünen zu ihm zurückkehrte.
Lyra wollte schon zu ihnen gehen, als Pantalaimon zu sprechen begann.
»Lyra«, sagte er, »Serafina Pekkala kam gestern Nacht zu uns und hat uns vieles erzählt. Sie ist wieder fortgeflogen, um den Gyptern den Weg hierher zu zeigen. Farder Coram kommt und Lord Faa, sie werden sich alle hier ein finden -«
»Pan«, sagte sie bekümmert, »du scheinst nicht glücklich zu sein. Was ist denn geschehen?«
Der Dæmon änderte seine Gestalt und huschte als weißes Hermelin über den Sand zu ihr. Der andere Dæmon tat es ihm gleich - Will spürte es wie einen Stich im Herzen - und wurde zu einer Katze.
Ehe sie zu ihm kam, sprach sie ihn an: »Die Hexe gab mir einen Namen. Vorher hatte ich kein Bedürfnis danach. Sie nannte mich Kirjava. Doch nun höre, höre uns zu .. .«
»Ja, hört beide zu«, sagte Pantalaimon. »Was nun kommt, ist nicht leicht zu erklären.«
Die Dæmonen wechselten einander ab und berichteten alles, was sie von Serafina erfahren hatten, angefangen mit der Offenbarung über das wahre Wesen der Kinder: wie diese ohne es beabsichtigt zu haben durch ihre Fähigkeit, sich von ihren Dæmonen zu trennen und doch ein Wesen zu bleiben, zu Hexen geworden waren.
»Aber das ist noch nicht alles«, sagte Kirjava.
Und Pantalaimon schloss an: »Oh, Lyra, verzeih uns, aber wir müssen euch etwas sagen, was wir herausgefunden haben ...«
Lyra war verwirrt. Wann hatte Pan sie jemals um Verzeihung gebeten? Sie schaute zu Will hinüber und sah die gleiche Verwirrung in seiner Miene.
»Sprecht nur«, sagte er, »habt keine Angst.«
»Es geht um Staub«, begann der Katzen-Dæmon. Will stellte entzückt fest, wie ein Teil seines Wesens ihm etwas enthüllte, was er noch nicht wusste. »Der ganze Staub, den es hier gab, strömte hinunter in den Abgrund, den ihr auch gesehen habt. Irgendetwas hat dem Verströmen dann ein Ende gesetzt, aber -«
»Will, das war dieses goldene Licht!«, rief Lyra. »Das Licht, das in den Abgrund fiel und dort verschwand ... Das war also Staub? Wirklich?«
»]a. Aber an anderen Stellen strömt weiterhin Staub aus«, fuhr Pantalaimon fort. »Und das darf nicht sein. Um keinen Preis darf alles fortfließen. Er muss in der Welt bleiben und darf nicht verschwinden, denn sonst wird das Gute immer schwächer und schließlich sterben.«
»Aber wo sind diese undichten Stellen?«, fragte Lyra.
Beide Dæmonen schauten auf Will und das Messer.
»Mit jedem neuen Fenster«, sagte Kirjava, und wieder spürte Will einen Kitzel in der Brust: Sie ist ich und ich bin sie »jedes Mal wenn jemand ein Fenster zwischen verschiedenen Welten öffnete, ob wir oder die Männer der alten Zunft, schnitt das Messer in die Leere draußen. Die gleiche Leere herrschte auch dort unten im Abgrund. Wir wussten das nicht. Keiner wusste es, weil die
Weitere Kostenlose Bücher