Das Blut der Azteken
Bevor ich nur einen Finger regen konnte, verletzte er mich im Gesicht. Mit wild rudernden Armen sprang ich auf, das Blut tropfte mir von der Wange.
Ich griff nach meinem Dolch und kauerte mich in eine Ecke. »Ist es schon so weit gekommen, mein Freund? Hast du keine Lust mehr, den Schatz zu teilen?«
Mateo setzte sich aufs Bett und wischte das Blut vom Dolch. »Wenn wir erst in Sevilla sind, wirst du mir dankbar dafür sein, dass das Brandzeichen vom Bergwerk verschwunden ist.«
Ich tastete nach der blutenden Schnittwunde an meiner Wange.
»Als Seemann weiß man, dass Wunden an der frischen Meeresluft und vom Salzwasser schneller heilen als in den stickigen Städten.« Er streckte sich in seiner Koje aus. »Wenn du bis morgen früh nicht verblutet bist, solltest du dir eine Geschichte für die Frauen von Sevilla ausdenken, woher du deine Narbe hast.«
Als wir in Sevilla ankamen, stellte ich verwundert fest, dass der große Hafen nicht am Meer lang, sondern etwa hundert Kilometer im Landesinneren am Fluss Guadalquivir, jenseits der Sümpfe von Las Marismas.
»Sevilla ist die größte Stadt Spaniens. In ganz Europa wird sie vermutlich nur von Rom und Konstantinopel übertroffen«, erklärte Mateo. »Außerdem ist sie sehr reich. Das Gold der Inkas und das Silber der Azteken strömten durch ihre Tore. Im Archivo General de las Indias werden die verschiedensten Unterlagen über die Entdeckung und Eroberung der Neuen Welt aufbewahrt. Alles, was in die Neue Welt geschickt wird, bringt man zuerst nach Sevilla. Das gesamte Transportwesen untersteht der Casa de Contratación, dem Handelsbüro, das bestimmt, welche Schiffe in See stechen und was sie geladen haben dürfen; es setzt auch die Gebühren fest. Selbst portugiesische Sklavenschiffe brauchen eine Genehmigung, um Sklaven von der afrikanischen Westküste in die Neue Welt zu schaffen.«
Sevilla war großartiger, als ich es mir je vorgestellt hatte. Während Mexiko-Stadt ein hübsches Juwel am Ufer eines blauen Sees war, verkörperte Sevilla das Bollwerk des Spanischen Reiches. Die Stadt war prächtig und gewaltig, nicht nur was ihre Größe, sondern auch was ihre Bauwerke betraf. Die massiven Befestigungsanlagen waren dick, hoch und wehrhaft genug, um Wind und Wetter und dem Ansturm feindlicher Armeen zu trotzen. Als wir von Bord gingen und durch die belebten Straßen schlenderten, fühlte ich mich wie ein Bauernbursche. Der Mund stand mir weit offen, und ich spitzte die Ohren in alle Richtungen. Wäre Mateo nicht bei mir gewesen, das Diebesgesindel auf den Straßen hätte mich gewiss schon nach wenigen Metern um mein Geld, meine Kleider und meine Ehre erleichtert.
Nachdem der heilig gesprochene König Ferdinand III. Sevilla erobert hatte, machte er sie zu seiner Hauptstadt. Doch der maurische Einfluss auf die Architektur ließ mir die Stadt fremdartig und aufregend erscheinen. Bis dahin waren mir die Ungläubigen nur dem Namen nach ein Begriff gewesen. Nun stellte ich fest, dass sie ein Volk mit Sinn für Anmut und Schönheit waren und dass ihre Baumeister Kunstwerke geschaffen hatten, wie es sonst nur Dichter und Maler vermochten.
Auch die Menschen unterschieden sich sehr von den Kolonisten in Neuspanien. Die ganze Stadt strahlte unverhohlene Macht und Unangreifbarkeit aus. Die Männer in den Kutschen, die durch die Straßen jagten, bestimmten über die Geschicke von Nationen. Die Kaufleute besaßen das Monopol über den halben Welthandel. Und selbst die Bettler auf den Straßen waren eine Klasse für sich und forderten Almosen, als ginge es um ein Privileg des Königs, anstatt ums Jammern und ums Klagen. Ich folgte Mateos Beispiel und stieß sie beiseite sollte das faule Pack doch für seinen Lebensunterhalt arbeiten!
Die Unterschiede zwischen Spanien und Neuspanien stachen überall ins Auge. Die neuspanischen Kolonisten waren ehrgeizig, ernsthaft, fleißig und fromm, achteten und fürchteten Kirche und Obrigkeit und legten großen Wert auf ein geregeltes Familienleben. In Sevilla beobachtete ich rasch das Gegenteil - eine erstaunliche Respektlosigkeit und freies Denken. Männer verkauften unmittelbar vor der Nase der Inquisition anstößige Bücher offen auf der Straße. Und dazu die unflätige Sprache! Hätte ich als junger Bursche solche Wörter benutzt, Bruder Antonio hätte mir nicht nur den Mund mit Seife ausgewaschen, sondern mir wahrscheinlich auch die Zunge abgeschnitten.
»In Kleinstädten und Dörfern«, erklärte Mateo, »stehen die Menschen
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