Das Habitat: Roman (German Edition)
Unbekümmertheit aber, die sich im Laufe der letzten Wochen in mir eingenistet hatte, war mit einem Schlag verflogen. Ich hatte mich sicher gefühlt, hier auf der Kathrina – viel zu sicher. Das war mir, durch die Ereignisse an der Schleuse, deutlich vor Augen geführt worden.
Eines Abends – bis Dublin waren es nur noch zwei oder drei Tage hin – setzte sich Tom neben mich an die Reling und blickte wie gedankenverloren hinüber zu den Lichtern der kleinen Ortschaft, an deren Anlegeplatz wir für diese Nacht festgemacht hatten. Wir hatten hier Lebensmittel geladen. In der Hauptsache Gemüse und Räucherwaren. Die vielen Menschen, die in der großen Stadt lebten, wollten versorgt werden. Das Kanalsystem war die Lebensader des Landes, das war mir, im Laufe meiner Reise mit der Kathrina immer deutlicher geworden.
„Du wirst uns in Dublin verlassen.“, sagte er plötzlich unvermittelt. „Habe ich recht?“
Ich sah überrascht hoch. Ich wollte etwas erwidern, seine Vermutung als Unsinn abtun. Er aber sah mich freundlich doch durchdringend an.
„Ich bin kein Idiot, Neil. Nun ja, zumindest meistens nicht.“, sagte er mit einem gutmütigen Lächeln. „Und ich habe Augen im Kopf. Ich habe sehr wohl bemerkt, wie sehr du dich geängstigt hast, als wir in diesem Keller eingesperrt waren. Und ich glaube nicht, dass das die Angst vor einer möglichen Bestrafung war. Du trägst irgend ein Geheimnis mit dir rum. Irgendjemand ist hinter dir her. Und dabei geht es um mehr als nur darum, zurückgebracht zu werden in das Waisenhaus, aus dem du angeblich fortgelaufen bist.“
Er hob die Hände, als ich noch nach Worten suchte, seine Vermutungen zu entkräften.
„Du brauchst es nicht abzustreiten. Ich werde auch nicht versuchen, aus dir herauszubekommen, was dir das Leben so schwer macht. Denn, dass du ganz offensichtlich nicht darüber reden willst, ist mir durchaus klar, Neil – so das überhaupt dein richtiger Name ist. Aber vermutlich wohl eher nicht.“
Wieder setzte ich an, etwas zu entgegnen – und wieder hob er abwehrend die Hände.
„Nein. Lass es gut sein. Ich will es gar nicht wissen.“
„Wann bist du darauf gekommen?“, fragte ich. Wobei ich versuchte, den Kloß in meinem Hals hinunterzuschlucken.
Er lachte leise.
„Eigentlich von Anfang an. Bereits als Marten mich gefragt hat, ob ich einen ausgebüchsten Jungen als Lehrling bei mir aufnehmen wolle. Weißt du, der Puppenspieler ist ein eigenartiger Mann – und seine Freunde sind ebenso eigenartig.“
„Kennst du Marten schon lange?“
„Ein paar Jahre.“ Er sah mir tief in die Augen. „Er hat mir einmal einen großen Dienst erwiesen – einen sehr großen Dienst. Was genau das war, das tut hier nichts zur Sache. Jedenfalls stehe ich tief in seiner Schuld. Und ich hoffe nur, dass ich eines Tages Gelegenheit erhalten werde, ihm zumindest einen Teil dieser Schuld zu vergelten. Wann immer er mich um einen Gefallen bittet, werde ich ihm diesen nicht verweigern. Und die Freunde des Puppenspielers werden immer auch meine Freunde sein. Deshalb habe ich dich aufgenommen – und nicht etwa, weil ich deine hanebüchene Geschichte auch nur einen Moment lang geglaubt hätte.“
„Warum sagt du, er wäre ein eigenartiger Mann?“
„Na, ist er das etwa nicht!“, sagte er mit einem Lachen.
„Ja, da hast du wohl recht.“, musste ich zustimmen.
„Unlängst, zum Beispiel, da er bei mir an Bord war, hat er mich doch ausgiebig nach meiner Fracht ausgehorcht. Jede Kleinigkeit wollte er wissen und gab keine Ruhe, bis er auch die letzte Information aus mir herausgeholt hatte. Er hat es mir regelrecht aus der Nase gezogen. Man hätte meinen können, er habe nun selbst vor, ins Frachtgewerbe einzusteigen.“
„Er wollte etwas über Kohlen oder Kartoffeln wissen?“, fragte ich ungläubig.
Tom schüttelte mit dem Kopf.
„Nein. Das wäre ja noch verständlich gewesen – nun, in gewissen Grenzen jedenfalls. Ihm ging es ausschließlich um die Fracht, die wir in Dublin aufnehmen und an nahezu alle Ortschaften ausliefern, die auf unserer Route liegen.“
„Und was wäre das?“, fragte ich neugierig.
Tom konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, als er antwortete.
„Hostien! Der verrückte Kerl interessierte sich doch tatsächlich brennend für geweihte Hostien. Alles, aber auch wirklich alles, schien er über sie wissen zu wollen. Woher wir sie bekamen, wer unsere Abnehmer waren – dumme Frage, die Priester natürlich – und wie groß die einzelnen
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