Das Haus in der Löwengasse (German Edition)
böse?»
«Aber nein, Kind. Ich dachte, du möchtest gerne vorsingen.»
«Will ich ja auch.»
«Möchte», verbesserte Pauline.
«Aber dann haben mich alle so angestarrt, und da konnte ich mich an keine Liedzeile mehr erinnern. Und die Dame hat anders gespielt als Sie», fügte sie anklagend hinzu.
«Würde es dir leichter fallen, wenn ich dich auf dem Pianoforte begleite?»
Das Mädchen schniefte. «Ich kann mich ja doch nicht mehr an den Text erinnern.»
«Wir könnten ihn einfach neben die Noten legen», schlug Pauline vor.
«Aber das wäre geschummelt!»
Sie lachte. «Ach, Ricarda, mein liebes Kind! Du bist erst neun Jahre alt! Niemand erwartet von dir, dass du eine fertig ausgebildete Sängerin bist!»
«So wie Sie?»
«Ich habe viele Jahre mehr Übung als du.»
«Werden Sie heute Abend auch singen?»
Pauline hob die Schultern. «Wenn man mich darum bittet, werde ich mich wohl kaum weigern können.» Sie drückte das Mädchen kurz an sich. «Wie ist es – kommst du wieder mit mir in den Salon?»
«Muss ich?»
Sachte strich Pauline ihr ein Löckchen aus dem verweinten Gesicht. «Wir können es auch auf einen anderen Anlass verschieben. Vielleicht möchtest du an Heiligabend deiner Großmutter etwas vorsingen.»
Wieder schniefte Ricarda. «Ja, vielleicht. Großmama starrt einen auch nicht so an.»
Pauline schmunzelte. «Möchtest du, dass ich dich bei unseren Gästen entschuldige?»
«Ich will … möchte lieber ein bisschen lesen, wenn ich darf.» Ricardas Blick wanderte zu dem Buch mit Heiligenlegenden, das Pauline ihr aus der Bibliothek gegeben hatte.
«In Ordnung», sagte sie. «Ich komme später noch einmal herauf und sehe nach dir.»
«Muss Peter jetzt nicht bald ins Bett?», fragte Ricarda.
«Ja, da hast du recht. Warum?»
«Schicken Sie ihn einfach herauf. Ich kümmere mich schon um ihn.»
Überrascht musterte Pauline Ricardas ernstes Gesicht, auf dem die Tränenspuren langsam trockneten. «Also gut. Vielen Dank, mein Kind.»
Ricarda rieb sich mit dem Ärmel über die Augen und griff nach dem Buch.
Pauline erhob sich und machte sich auf den Weg zurück zu den Gästen.
***
Frieda hatte gerade ein weiteres Lied beendet, als Pauline den Salon betrat. Sogleich richteten sich alle Augen auf sie. Besonders Julius musterte sie eingehend, konnte an ihrem Gesichtsausdruck jedoch nicht ablesen, was sie dachte oder fühlte. Ihre Miene zeigte freundlichen Gleichmut. «Verzeihen Sie», sagte sie betont heiter. «Fräulein Ricarda fühlt sich nicht wohl und hat darum gebeten, zu Bett gehen zu dürfen.»
«Das arme Ding», sagte Ariane Stein mitfühlend. «Ein andermal wird sie uns ganz sicher die Ehre geben, an ihrem Gesang teilzuhaben.»
«Ganz bestimmt», antwortete Pauline. «Aber ich wollte Sie, liebes Fräulein Oppenheim, nicht unterbrechen. Sie haben sehr schön gesungen, wie ich hören konnte.»
«Oh, vielen Dank.» Frieda lächelte erfreut und stand von der Bank am Pianoforte auf. «Aber warum singen Sie uns nicht etwas vor, Fräulein Schmitz? Wie mir meine Freundin Christine erzählte, besitzen Sie eine sehr schöne Singstimme.»
«Nun ja …»
«Bitte», mischte sich Julius ein. Seit er Pauline unter dem Fenster bei Steins hatte musizieren hören, war er nicht mehr in den Genuss ihres Gesangs gekommen. Von ihren Übungsstunden mit Ricarda bekam er nicht viel mit, da sein Arbeitszimmer und die Bibliothek sich im anderen Flügel des Hauses befanden. «Ich würde mich sehr freuen.»
Pauline runzelte die Stirn. Ihr Blick schien zu fragen, ob er dies ernst meinte oder sie auf den Arm nehmen wollte. Julius’ Miene gab seine Gedanken nicht preis, und doch beobachtete er mit Wohlgefallen, wie sie sich an das Instrument setzte und die Notenblätter neu ordnete. Frieda stellte sich schräg neben sie. «Ich blättere für Sie um, meine Liebe», erbot sie sich.
«Vielen Dank.» Pauline schlug ein paar Töne an, dann begann sie mit einer französischen Weise:
Non, je n’irai plus au bois,
Non, non, je n’irai plus seulette,
Un seul moment l’autre fois,
Un instant que deveniail Lisette.
Non, je n’irai plus au bois,
Non, non, je n’irai plus seulette,
Je connais trop le danger
Ou l’amour pourrait m’engager …
Schon nach wenigen Versen hatte Pauline die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Anwesenden. Vor allem Frieda konnte ihre Überraschung nicht verbergen. Obgleich Christine Stein ihr von Paulines Talent erzählt hatte, war Frieda davon ausgegangen, dass es sich um
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