Das Knochenhaus
eingestürzt. Zwischen dem Trümmergewirr lagen die Überreste eines großen Holzrades und mehrere Mahlsteine.
»Eine Mühle«, mutmaßte Mina.
Das Bauwerk musste schon seit Langem verfallen sein; Unkraut wuchs im Schutt, und auf den oberen Steinen und den Felsplatten, die Fenstersimse gewesen waren, hatte sich Gras ausgebreitet. Doch irgendjemand nutzte immer noch den Teich, denn sie sah ein Seil, das an einen Eisenring in der Wand über dem Wasser gebunden war und an dessen Ende ein Holzeimer hing.
Einen Moment lang stand sie nur da und fragte sich, wo und in welcher Zeit sie war. Soweit sie zu erkennen vermochte, könnte sie überall und in jeder Zeit sein. Die Gegenstände, die sie um sich herum sah, muteten sicherlich recht antik an, doch es ließ sich nur wenig mehr aus ihnen ablesen. Die umliegende Landschaft gab nahezu keinen Hinweis auf ihren Aufenthaltsort, an dem sie zuvor noch nie gewesen war und der in einer Vielzahl von Ländern sein könnte. Dennoch schien ihr etwas an der Bauweise, so primitiv sie auch war, mehr europäisch als beispielsweise südamerikanisch zu sein. Und bestimmt war sie nicht asiatisch.
Was sollte sie jetzt machen?
Sie hob die Augen zum Himmel. Das Licht hatte den goldenen Schimmer des späten Nachmittags angenommen; und die eh schon geringe Luftwärme nahm immer mehr ab. Die Schatten der Schluchtwände wurden länger und dunkler, da es auf den Abend zuging. Sie hatte kein Interesse daran zu riskieren, dass sie in der Dunkelheit umherwandern musste; daher drehte sie sich um und eilte den Weg zurück, den sie gekommen war.
Als Mina den Punkt erreichte, an dem sie das Tal betreten hatte, zog sie die Ley-Lampe aus ihrem Arbeitskittel. Sie begann, den langen, rampenähnlichen Pfad, der auf die Spitze der Schluchtwände ausgerichtet war, rasch hochzugehen; wie vorhin hielt sie dabei die Ley-Lampe vor sich. Nach einem halben Dutzend Schritten begann das messingverkleidete Instrument in seinem unheimlichen indigofarbenen Licht zu erglühen ... Wenige Schritte weiter, und sie hörte wieder das schwache Tschilpen. Sie ging weiter. Der Pfad stieg zwischen zwei Felsenstapeln an, die wie zwei Säulen zu beiden Seiten hochragten. Wilhelmina trat durch dieses primitive Tor hinein in den Schatten. Einen Augenblick lang war sie in Dunkelheit gehüllt, und es gab keine Luft mehr. Unwillkürlich hielt sie den Atem an. Sie stolperte vorwärts – hinein in den kleinen Buchenwald mit seinem schmalen Wildwechsel.
Sie stand da und blinzelte mit den Augen, die sich an das Licht gewöhnen mussten. Die Luft war angenehm warm; Sonnenstrahlen brachen durch die Baumkronen und besprenkelten Minas Umgebung mit Schattentupfen.
Sie war wieder zu Hause.
Auf halbem Wege zurück in die Stadt kam ihr plötzlich ein erschreckender Gedanke: Sie fragte sich, ob sie in dieselbe Zeit zurückgekehrt war, die sie verlassen hatte. War sie immer noch im siebzehnten Jahrhundert? War Rudolf immer noch Kaiser? Gab es immer noch ihr Kaffeehaus? Und würde Etzel auf sie warten?
Ihr Herz sank, und für etliche Minuten gab sie sich einer Vielzahl wilder, beängstigender Vorstellungen hin und dachte an all die Dinge, die schiefgegangen sein könnten. Sie machte sich selbst die größten Vorwürfe, weil sie so dumm gewesen war. Was wusste sie denn eigentlich schon über diese Ley-Linien?
Doch dann vernahm sie Kirchenglocken. Die Klänge erschallten immer lauter, erfüllten die Straßen und hallten weit über den Fluss hinweg. Die vertrauten Töne brachten sie wieder zur Besinnung, und irgendwie war sie sich nun sicher, dass alles gut war. Sie beschleunigte ihre Schritte, während sie die Stadttore passierte, und hastete zum Altstädter Ring. Als sie die wunderschöne grün-weiße Fassade des Großen Kaiserlichen Kaffeehauses erblickte, lächelte sie vor Glück.
Etzel stand da in seiner mehlverstaubten Schürze und war noch genau so, wie sie ihn verlassen hatte. Als sie in das Geschäft eilte, schaute er auf, und sogleich strahlte er über das ganze Gesicht. Obwohl viele Kunden da waren, die gemütlich ihren Nachmittagskaffee tranken, ging sie zu dem großen Bäcker und gab ihm einen dicken Kuss auf die weiche Wange.
»Mina!«, rief er und berührte ihr Gesicht mit seiner mehligen Hand. »Ich dachte, du würdest spazieren gehen.«
»Bin ich auch.«
Er beäugte sie von der Seite. »Aber du bist doch erst vor einem Moment gegangen.«
Mina zuckte ihre Schultern. »Ich habe meine Meinung geändert. Ich möchte lieber hier
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