Das Lügenlied vom Glück: Erinnerungen (German Edition)
und Zweitstimmen ein. Für meine Altstimme schrieb er extra den »Sommernachtsball« – da singe ich erst in meiner Lieblingstiefe, um dann in die Höhe zu »oktavieren«. Eine Oktave sind zwölf Halbtöne. Er versuchte hier dem vollen Umfang meiner Stimme gerecht zu werden. So konnte ich mir durch ihn mein Profil erarbeiten und schuf mir eine Grundlage.
Wir probten fast täglich. Später spielten wir monatlich bis zu zwanzigmal, und das ganzjährig. Bis ich irgendwann die Bremse zog und höchstens noch zwölfmal im Monat auftreten wollte.
Kurt Demmler, der zweite Kopf in unserem genialen Autorenteam, war ein hochgewachsener, sportlicher Mann, acht Jahre älter als ich, ein studierter Arzt, der seinen Beruf nur kurzzeitig (von 1969 bis 1976) in Leipzig an der Poliklinik ausübte. Schon Anfang der Siebziger galt er als der beste, vielseitigste Texter in der DDR. Dieser Ruf hat sich bis 1989 immer weiter gefestigt – nicht zuletzt durch unsere Zusammenarbeit und die Erfolge, die wir in unseren gemeinsamen Jahren feierten. Im Grunde kam eigentlich kein Solist, keine Rockband an ihm vorbei, sie wollten alle von Kurt betextet werden. Oder aber, wie es dann in den Achtzigern auch passierte, sich ganz bewusst von seiner Art zu texten unterscheiden.
Im Kulturleben der DDR jedenfalls war Demmler eine Institution. Virtuos fand er Worte und Bilder, die auf und mit der Musik schwangen, Stimmungen erzeugten, Geschichten erzählten oder Gefühle weckten, ohne den Fluss von Melodie und Rhythmus aufzuhalten. Das lag auch daran, dass er selbst gut singen, also die Singbarkeit eines Textes selbst prüfen konnte – ein Vorteil für Poeten der Musik. Kurt konnte den »Kleinmädchenton« genauso wie rockige Verweigerungsgesten, satirischen Spott ebenso wie geschliffenes Philosophieren, ja selbst die alle einbeziehende gesungene Volksweisheit gelang ihm. Auch Kinderlieder ließ er sich einfallen.
Kurt hat einmal behauptet, in seinem knapp fünfundsechzigjährigen Leben, das er traurigerweise 2009 selbst beendete, über zehntausend Liedtexte geschrieben zu haben. Ich habe diese gewaltige Zahl nicht überprüft – wie sollte das auch gehen? –, aber wenn ich an unsere ersten gemeinsamen Jahre denke und daran, wie er vor Ideen und Projekten schier übersprudelte, erscheint mir das nicht aus der Luft gegriffen.
Kurt besuchte mich zum ersten Mal, als ich noch bei Stern Meißen sang. Er hatte über ein Konzert von uns einen Bericht geschrieben und meinen Gesang »soulig« genannt. Die Radioproduzentin Luise Mirsch hatte ihm wohl den Tipp gegeben, mich für kommende Projekte einmal kennenzulernen – oder war es Marianne Oppel, stellvertretende Redaktionsleiterin von DT64, dem Jugendradio der DDR, und Entdeckerin von Kurt?
Die erste Begegnung mit ihm in Dresden war mir nicht wirklich angenehm. Ich spürte, dass er meine Unsicherheit genoss. Er liebte unerfahrene Frauen. Dass er gleich bei mir übernachten und mich mit dieser Ankündigung offensichtlich erschrecken wollte, nur merkwürdig auflachte, als ich ihm antwortete: »Mein Freund kommt gleich!« – solche Unbehaglichkeiten wechselten mit Gesprächsphasen, in denen er hoch aufmerksam und ernst zu erforschen versuchte, welche Arten von Texten mir entsprechen und liegen könnte.
Die Wechsel folgten so schnell, dass ich Kurt überhaupt nicht einordnen konnte. Vor mir stand ein ungewöhnlicher Mann, einerseits hochintelligent, andererseits fast kindisch, merkwürdig. Ich schwankte die ganze Zeit zwischen dem Impuls, das Gespräch fortzusetzen oder ihn lieber möglichst schnell zur Bahn zu bringen, und war erleichtert, als László endlich nach Hause kam. Eine Zusammenarbeit sollte dennoch folgen.
Einer der ersten Texte, die Kurt für mich schrieb, war »Guten Tag« ein Lied für den Film Hostess . Parallel dazu betextete er die Kompositionen, die Franz für unsere Rundfunkaufnahmen im Frühjahr 1974 komponiert hatte – Lieder, die »Abendlied« hießen oder »Meine Erde, meine Welt« und in denen ich als kleines liebes DDR-Mädchen anfrage, was ich denn machen darf für die Gesellschaft, für mein Vaterland.
Wir haben diese Stücke nicht auf unsere erste LP übernommen (erst lange nach der Wende sind sie als Raritäten auf einem Sampler erschienen). Es hat eine Weile gedauert, bis ich den Mut aufbrachte, Kurt den Grund dafür zu erklären. Ich sah mich nicht als das liebe kleine Mädchen, mein Lebensgefühl war heftiger, vieldeutiger, auch erwachsener als das, was er anfangs
Weitere Kostenlose Bücher