Das mach' ich doch mit links: Roman (German Edition)
strahlend glücklicher Mütter. Die moderne Psychiatrie leistet viel für die Gesunderhaltung des Geistes, aber der Schulbeginn hat in dieser Beziehung auch immer noch sein Gutes, fand Tinchen. Von Natur aus war sie ein Morgenmensch, das frühe Aufstehen störte sie nicht, und ihre gute Laune ließ sie sich auch von der muffligen Frühstücksrunde nicht verderben.
»Kannste mir mal den Wisch hier unterschreiben?« Melanie legte einen Zettel auf den Tisch und reichte Tinchen einen Kugelschreiber. »Ist nur die Einverständniserklärung, dass ich am erweiterten Sexualunterricht teilnehmen darf.«
»Mit sechzehn? Seid ihr da nicht ein bisschen spät dran?«
»Aufgeklärt wurden wir schon in der sechsten Klasse – rein biologisch natürlich. Wahrscheinlich wird es jetzt interessanter, weil sie ins Detail gehen.«
»Erwarte bloß nicht zu viel«, warnte Rüdiger. »Erst kommt der Pfarrer und sagt euch, warum ihr’s nicht tun sollt. Dann kommt ein Arzt und sagt, wie ihr’s nicht tun sollt.« Er packte sein Frühstücksbrot in die Mappe und stand auf. »Ich würde sonst was dafür geben, wenn ich noch mal in die zehnte Klasse gehen könnte.«
»Das kannste auch umsonst haben. Du brauchst bloß mal an dein Zwischenzeugnis zu denken!«
»Alte Giftspritze!!«
Tinchen wurde hellhörig. Da schien es ein Problem zu geben, von dem sie nichts wusste. »War das Zeugnis wirklich so schlecht?«
»Noch schlimmer!« Er grinste auf Tinchen herunter. »An den Zensuren kannst du direkt sehen, wie reformbedürftig unser Schulsystem ist.«
»Wo hängst du denn am meisten?«
»Mathe und Latein.«
»Latein kann man lernen«, gab Tinchen eine allgemein verbreitete Weisheit wieder, deren Wahrheitsgehalt sie allerdings nie hatte nachprüfen können. Sie hatte Englisch gelernt und Italienisch.
»Typisches Geschwafel der Unwissenden«, sagte denn auch Rüdiger. »Je tiefer ich in die Geheimnisse der lateinischen Sprache eindringe, desto mehr verstehe ich, weshalb das Römische Reich untergegangen ist. Übrigens – wer oder was ist Agricola?«
»Cola für Bauern«, gab Tinchen zurück. »Und jetzt verschwindet endlich, sonst seid ihr gleich am ersten Schultag wieder zu spät dran.«
Sie trat auf den Küchenbalkon und blinzelte in die Sonne. Der Frühling hatte endgültig Einzug gehalten. Bis auf ein paar vereinzelte Wattebällchen war der Himmel blau, die Mandelbäume blühten, die ersten Fliederknospen zeigten sich, und die milde Temperatur der letzten Tage war geblieben.
Tante Klärchen auch. Leider. In ihrer ersten Empörung hatte sie zwar angedeutet, noch in derselben Woche abreisen zu wollen, aber nachdem der erhoffte Protest ausgeblieben war und Florian ihr sogar aus Gesundheitsgründen einen Klimawechsel vorgeschlagen hatte, war sie auf dieses Thema nicht mehr zurückgekommen. Wo hätte sie es denn auch besser haben können als hier? Ernestine brachte ihr den Kaffee ans Bett, Florian hatte die fahrbare Liege aus dem Keller geholt, so dass sie, Claire, schon am späten Vormittag ein Sonnenbad nehmen und gleichzeitig die Putzfrau ein bisschen im Auge behalten konnte. Man merkte sofort, dass Ernestine noch nie mit Personal umgegangen war. Sie wahrte keinen Abstand, behandelte diese Frau Künzel wie ihresgleichen und kümmerte sich nicht im Geringsten darum, was die Frau tat oder nicht tat. Wie konnte man eine neue Aufwartefrau stundenlang allein in den Zimmern lassen – und rundherum das ganze Silber?
»Wenigstens in der Anfangszeit musst du deine Hilfe beaufsichtigen«, hatte sie Tinchen ermahnt, »Personal stiehlt immer.«
»Aber bestimmt kein Bohnerwachs!«, hatte Tinchen zornig geantwortet. »Ich weiß nicht, ob du deinen Korsettnäherinnen über die Schulter geguckt und die Garnrollen gezählt hast, aber es geht entschieden zu weit, wenn du auch hier anfängst, das Waschpulver zu kontrollieren! Solle dir der Verbrauch zu hoch erscheinen, dann berücksichtige bitte, dass ich deinen grünen Schleier bereits drei Mal in der Maschine hatte. Natürlich separat gewaschen, weil er ja so empfindlich ist.«
Dieses Chiffongewand, von Tante Klärchen das »Teagown«, von Florian als Gardine bezeichnet, bestand aus mehreren Teilen, die sich beliebig kombinieren ließen. Vormittags trug sie die klassische Variante, bestehend aus Hose, tunikaähnlichem Oberteil und einem darübergeworfenen, rüschenbesetzten Mantel. Sobald die Temperatur anstieg, vertauschte Tante Klärchen den langärmeligen Kaftan mit etwas gerafftem
Weitere Kostenlose Bücher