Das Mädchen und der Zauberer
jetzt das Jahr zehn. Dann bist du zehn Jahre an meiner Seite.«
Es war wirklich alles wie ein Traum.
Nun also fuhren sie mit dem weißen Citroën über die Insel, zunächst die übliche Strecke, die man auch den Touristen anbietet, der Rundkurs über St. Pierre, Le Carbet, Bellefontaine, Case-Pilote und Schoelcher nach Fort de France und von dort nach Norden durch den herrlichen Regenwald des Forêt du Morne des Olives nach Morne-Rouge. Hier aber bogen sie ab weiter nach Norden, die Serpentinen zur Montagne Calebasse hinauf und wieder hinunter, eine traumhafte Straße durch Urwald und Gebirge, über den Rivière Capot hinweg, der vom Mont Pelée herunterrauscht. Dann erreichten sie bei Anse Chalvet die Küste und fuhren immer am Meer entlang bis Grand'Rivière. »Welch eine Insel!« sagte Petra mehrmals begeistert. »Welch ein Land! Du lieber Himmel, was habe ich unseren Kunden im Reisebüro für einen Blödsinn erzählt! Das hier kann man ja nicht beschreiben, das muß man erleben, mit den Augen trinken.«
Im Restaurant des Hotels Les Abeilles, direkt an der Küste, hielt Babou an. Monsieur hatte die Rundfahrt natürlich vorher mit ihm genau besprochen, und pünktlich, wie errechnet, trafen sie zum Mittagessen ein. Das war Babous ganzer Stolz: Pünktlich zu sein, auch wenn es über hundert Kilometer ging. Waren es fünfzehn Minuten später, benahm sich Babou untröstlich, als sei der ganze Wagen zertrümmert.
Erst am Abend kamen sie zurück, müde, aber glücklich. Von der Terrasse wehte ihnen ein herrlicher Bratengeruch entgegen: Die schwarze Köchin drehte ein Ferkelchen am Spieß und begoß den Braten mit einem Gemisch aus weißem Rum und rotem Wein.
Im Zimmer von Madame wartete bereits Rosette auf Petra, mit Frotteetüchern, Bademantel und Goldpantöffelchen. Aus der offenen Tür des Badezimmers strömte der süße Duft des parfümierten Wassers in der Marmorwanne.
»Es ist gut, Rosette«, sagte Petra, nahm ihr Handtücher und Bademantel ab, ging in das Bad und schloß hinter sich die Tür. Rosette stand eine Weile wie versteinert, dann schlug sie die Hände vor ihr Gesicht und rannte laut weinend davon. Sie begriff nicht, warum Madame sie beleidigt hatte, es war doch alles richtig gewesen.
Im Salon de Dame stand Petra nach dem Bad unschlüssig vor dem Kleiderschrank. Natürlich waren alle ihre Koffer ausgeräumt worden, die verknautschten Kleider waren gebügelt und hingen auf den Bügeln, die Wäsche war wie mit einem Lineal gestapelt – eine so mustergültige Ordnung hatte Petra in ihrem Leben bisher nie gehabt.
Nackt ging sie zum Frisiertisch, um sich das Gesicht mit Creme einzureiben, als sie stutzte. Auf der Glasplatte vor dem dreiteiligen Spiegel lag eine dünne, rote Mappe. War René hier gewesen und hatte sie vergessen? Sie zögerte, klappte dann doch den Deckel auf und blickte verwundert auf den Inhalt.
Zeitungsausschnitte. Aus Tageszeitungen, aus Illustrierten und Magazinen.
Sie wollte die Mappe schon wieder zuklappen, als sie die Fotos von zwei Frauen sah. Eine rassige Kreolin und eine verträumt in die Kamera lächelnde Weiße. Und über den Bildern die Zeile: Grausiger Mord im Bois de Piton Gelé. Ist die verschwundene Élise die Mörderin?
Mit einem plötzlich schmerzenden Gefühl im Magen beugte sich Petra über die ausgeschnittenen Artikel und las sie. Ein Schaudern ergriff sie, je weiter sie las, Artikel nach Artikel, die in aller Gründlichkeit beschrieben, was da vor zehn Jahren hier in diesem Haus und draußen im Wald geschehen war.
Claudette Sanfour lag mit aufgeschlitztem Leib in einer Waldlichtung, die mit hohen Farnen fast unzugänglich war. Die Polizei ist der Ansicht, daß der Fundort der Ermordeten nicht mit dem Tatort übereinstimmt. Nirgendwo Kampfspuren, nirgendwo Blutlachen, die bei einer so schrecklichen Tötung hinterlassen werden. Der Polizeiarzt bestätigte dann auch, daß die Leiche fast ausgeblutet gewesen sei, als man sie im Bois ablegte. Noch ungeklärt ist auch das Verschwinden von Élise Sarnoum, einer kreolischen Näherin aus St. Pierre, die zur gleichen Zeit wie Claudette Sanfour als vermißt gemeldet wurde.
Die Vorgeschichte ist dabei sehr pikant. Seit fast zwei Jahren war Élise die Geliebte des Fabrikanten René Birot und wohnte sogar in seinem Haus. Dann brachte Birot von Guadeloupe Madame Claudette mit, die er – wie er allen erzählte – in Kürze heiraten wollte. Élise kehrte enttäuscht zu ihren Eltern nach St. Pierre zurück.
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