Das Magdalena-Vermächtnis: Roman
als gewänne er aus seinen letzten Worten noch einmal neue Kraft. »Hier auf Erdenhat Gott uns getrennt, aber im Himmel werden wir für immer verbunden sein. Ist es so denn nicht viel besser?«
Colombina weinte. Sie brachte kein Wort hervor.
»Ich möchte dir das größte aller Versprechen abnehmen«, flüsterte Lorenzo. »Versprich mir, dass du mich suchen wirst, wenn die Zeit wiederkehrt, gleich wann oder wo, und dass du mich niemals aufgibst. Ich muss wissen, dass ich dich eines Tages wieder in den Armen halten werde. Du musst es mir versprechen, Colombina.«
»Ich verspreche es«, wisperte sie, und ihrer beider Tränen vermischten sich. »Ich werde dich wieder lieben.«
Lorenzo war zu schwach, um weiterzusprechen, doch seine Augen sagten Colombina alles, was sie wissen musste. Zärtlich küsste sie ihn ein letztes Mal – und ein letztes Mal waren ihre Seelen durch den gemeinsamen Atem verbunden, sodass Lorenzo einen Teil Colombinas mit sich nahm und sie einen Teil von ihm behielt, bis beide eines Tages wieder vereint sein würden, wenn es Gott gefiel.
Als Colombina leise Lorenzos Schlafkammer verließ, ging gerade die Sonne über Florenz auf. Angelo und Sandro saßen vor der Tür. Sie wirkten verhärmt und verzweifelt. Colombina öffnete den Mund, wollte etwas sagen, brachte vor Schmerz aber kein Wort hervor. Sie floh aus dem Haus, ziellos, wollte nur fort von dem Ort, an dem Lorenzo gestorben war. Schließlich fand sie sich in der Loggia wieder und versuchte, sich an einer steinernen Säule aufzurichten, doch kein Stein auf der Welt war stark genug, um ihren Kummer auszuhalten. Colombina sank zu Boden und ließ sich von ihrer Trauer übermannen. Mit einem unirdischen Schrei brach sie in Tränen aus.
Ihre Klagelaute waren durch das ganze Tal zu hören. Herzzerreißendes Jammern, in dem Jahrzehnte des Schmerzes undder verlorenen Liebe lagen, hallte durch den Wald von Careggi, wo Colombina und Lorenzo einander vor so vielen Jahren zum ersten Mal gesehen hatten.
Endlich kam Sandro, um sie zu trösten, nachdem er sie einige Zeit allein ihrem Schmerz überlassen hatte.
»Was sollen wir tun, Sandro?«, fragte sie verzweifelt. »Wie sollen wir ohne ihn leben? Wie wird Florenz überleben?«
»Indem wir seine Mission erfüllen, Colombina, wie wir es versprochen haben.«
»Aber wie sollen wir die Kraft dazu finden? Ohne unseren Hirten sind wir verirrte Schafe.«
Sandro schaute sie voller Mitgefühl an; dennoch klang seine Antwort ein wenig schroff. Er ging in die Knie und packte Colombinas Schultern. »Hör zu. Ich habe dich oft gemalt, und immer aus einem ganz bestimmten Grund. Ich habe dich als Tapferkeit gemalt, weil deine Zielstrebigkeit größer ist als die jeder Frau, die ich kenne. Ich habe dich als Göttin der Liebe gemalt, weil Lorenzo es so wünschte und weil deine Liebe zu ihm all das verkörpert hat, was die Venus für uns bedeutet. Ich habe dich als Muttergottes gemalt, um deine Anmut zu preisen. Und ich habe dich als Judith gemalt, weil du furchtlos bist und vor keiner Aufgabe zurückschreckst, die dir im Namen unseres Glaubens aufgetragen wurde. Nun wirst du alle diese Eigenschaften brauchen: deine Tapferkeit, deine Liebe, deinen Glauben und deine Furchtlosigkeit. Du musst es für dich tun, für Lorenzo und für das Werk, das zu vollenden wir gelobt haben.«
Colombina streckte die Hand aus, um die stets störrische blonde Strähne aus Sandros Stirn zu streichen. »Du bist der beste Bruder, den man sich wünschen kann, Alessandro.«
» Le temps revient , Schwester. Nun komm, Judith. Da draußen lauert ein Riese, der geköpft werden muss, und du bist gerade die Richtige dafür.«
In den frühen Morgenstunden des 8. April 1492, als Lorenzo de’ Medici sich auf seinem Sterbebett von seinen Freunden verabschiedete, ereigneten sich in Florenz eine Reihe unerklärlicher Vorfälle. Ein Gewitter zog auf, ein Blitz schlug in Giottos Campanile ein und sprengte Steine und Marmorbrocken ab, die in die Tiefe geschleudert wurden und auf der Piazza zerschmetterten. Inmitten des Tumults begannen die beiden Löwen, die Florenz als lebende Wappentiere hielt und die jahrelang friedlich in ihrem Käfig neben der Piazza della Signoria gelebt hatten, unruhig umherzulaufen und ihr schreckliches Gebrüll zu erheben, ehe sie übereinander herfielen. Am Morgen waren beide Löwen tot – wie auch Lorenzo de’ Medici.
Die Menschen in Florenz betrachteten diese Ereignisse als schreckliche Omen. Die meisten waren
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