Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou
ging und eilte zurück an ihren Platz vor dem Lotusbus.
Fünf Dutzend Kondome und zwei Tuben Gel gab ihr Laula und bat sie, doch wieder einmal beim Roten Kreuz zu einer HIV -Untersuchung zu gehen. YuanYuan hatte es heute aber eilig. Wer weiß, wer die kleine Frau noch erkannt hatte. Wer es als Erster melden würde, bekäme das Geld.
Aber wem sollte sie erzählen, was sie beobachtet hatte? Der einzige regelmäßige Kunde, von dem sie ahnte, dass er zur Triade 14 K gehören könnte, war der merkwürdig stille Kellner, der für zehn Minuten immer ganze zwanzig Euro zahlte. Mehr, als sie verlangte.
Sie knöpfte ihr Kleid oben zu, nahm die billige Goldbrosche ab und zog sich auf der Toilette eines kleinen Cafés die Netzstrümpfe aus. Dann eilte sie die Rue de Belleville hinunter, stand zehn Minuten später im noch leeren Restaurant »Le Pacifique« und fragte, ob Gao Qiu zu sprechen sei?
Aus der Küche hörte sie großes Gelächter, dann kam Gao Qiu und trocknete sich die Hände an einem Spültuch ab.
Er erkannte YuanYuan und fragte unwirsch: »Was willst du?«
»Ich habe gehört, der Drachenmeister hat eine Belohnung ausgesetzt für Auskünfte über die kleine Frau. Gilt das noch?«
»Ja. Das gilt noch. Weißt du etwas?«
Gao Qiu war wie elektrisiert. »Und von wem bekommt man das Geld?«
»Wenn der Hinweis gut ist, besorge ich dir die Belohnung.«
»Fünftausend Euro?«
Die Summe würde ausreichen, um ihre Schulden und das Schulgeld für ihre Tochter auf Jahre hinaus zu bezahlen, auch für die Heimreise. Sie atmete auf, spürte ein Gefühl von Freiheit in ihrer Brust.
»Fünftausend Euro. Und ich gebe dir jetzt schon einmal fünfzig Euro, wenn du mir etwas Genaueres sagen kannst.«
YuanYuan hatte sich genau eingeprägt, was sie gesehen hatte. Sie war nach dem Besuch im Lotusbus zu der Tür gegangen, hinter der die kleine Frau verschwunden war. Da lag unter anderem eine Arztpraxis.
Die Schlagzeile von morgen
Z uerst spielte der Chefredakteur nur mit seiner Schachtel Gitanes, dann holte er eine der gelben Zigaretten heraus, was Margaux kurz ablenkte, aber in ihrem Redefluss noch nicht unterbrach. Erst wenn er die Zigarette anzünden würde, wäre eine Mahnung fällig. Im Konferenzraum durfte seit Jahren schon nicht mehr geraucht werden.
Auf Vorschlag von Margaux hatte Jean-Marc Real drei seiner besten Rechercheure zu einer Sondersitzung zusammengerufen. Und Margaux führte das Wort. Knapp, kurz und präzise.
»Wir bereiten eine Serie für mindestens drei Tage vor. Am ersten Tag machen wir mit einer Schlagzeile zu dem anonymen Brief auf. Thema: Im TGV -Vertrag mit Marokko steht, dass fast dreihundert Millionen Euro an Vermittler gezahlt werden. Das bewerten wir noch nicht. Aber wir machen einen Kasten, in dem wir erklären, bei welchen großen Verträgen in der letzten Zeit solche Vermittlergebühren vorgesehen waren, die sich dann als Retrokommissionen und Bestechung entpuppten. Das Fregattengeschäft mit Taiwan zum Beispiel. Die U-Boote für Pakistan. Die Waffenlieferungen nach Angola. Der Kauf der ostdeutschen Raffinerie Leuna durch Elf-Aquitaine. Wer sich darum kümmert, ist mir egal. Ich schreibe die Story über den anonymen Brief.«
Jean-Marc nahm die Zigarette in den Mund, zündete sie zwar nicht an, aber fingerte sein Feuerzeug aus der Hemdentasche und ließ es spielend durch seine Finger gleiten.
»Wir sollten auch einen Kasten zum Thema Corbeau und anonyme Briefe machen. Es wird ja behauptet, dass Richter sich manchmal solche Briefe selber schicken, damit sie dann in die entsprechende Richtung recherchieren können.«
»Wer sagt denn so einen Schwachsinn?«, warf Margaux ein.
»Na, frag mal deinen Spezialisten! Nennen wir denn schon am ersten Tag den Namen des Vermittlers, den wir kennen?«, fragte Jean-Marc.
Margaux überlegte einen Moment, ehe sie antwortete: »Das würde ich nicht tun. Dann verderben wir uns die Überraschung des zweiten Tages. Denn in der zweiten Geschichte, immer noch mit Schlagzeile, enthüllen wir, dass der ermordete Mohammed eine enge Beziehung zu dem Vermittler hat, dessen Namen wir kennen und enthüllen. Georges Hariri. Ihr habt mitbekommen, dass der in Marokko verunglückt ist. Er sagt, es sei ein Unfall gewesen. Aber ich habe gestern kurz mit Untersuchungsrichter Ricou sprechen können. Der ist in Marrakesch wegen des Mordes an besagtem Mohammed. Die Geschichte kennt ihr aus dem Blatt. Ricou hat nur kurz angedeutet, dass das Attentat vor dem Ingenieurbüro in
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