Das Mitternachtskleid
festzustellen, dass sich eine ganze Tigerfamilie ins Zimmer verirrt hat und am Fußende des Bettes eingeschlafen ist: Noch war alles friedlich, doch im nächsten Augenblick würde jemand einen Arm verlieren. Da waren die Boffo-Artikel, Hexenbedarf für Möchtegernhexen. Damit konnte man Leute beeindrucken, und möglicherweise halfen sie einer Anfängerin sogar, sich aufs Hexen einzustimmen. Aber Frau Prust würde doch auf gar keinen Fall Sachen verschicken, die tatsächlich wirkten, oder?
Hinter ihr klapperte es. Lätitia kam mit einem schweren Eimer hinter einem Bücherregal hervor, und als sie ihn auf den Boden wuchtete, schwappte eine Ladung Sand heraus. Sie steckte die Hände in den Eimer und tastete darin herum. »Ah, da haben wir dich ja schon.« Sie zog etwas heraus, das wie eine Karotte aussah, die von einer nicht sonderlich hungrigen Maus angeknabbert worden war.
»Und das soll ich sein?«, fragte Tiffany.
»Holzschnitzerei ist leider nicht meine Stärke«, antwortete Lätitia. »Aber im Buch steht, es kommt viel mehr darauf an, was man dabei denkt?« Die nervös vorgebrachte Feststellung, die in einer kratzigen kleinen Frage endete, schien einen erneuten Weinkrampf einläuten zu wollen.
»Tut mir leid«, sagte Tiffany. »Das Buch irrt. So einfach ist es nicht. Es kommt darauf an, was man tut . Wenn man jemanden verhexen will, braucht man etwas, das ihm gehört hat – Haare oder vielleicht auch einen Zahn. Aber du solltest lieber gar nicht erst damit anfangen. Es ist nicht schön, und man kann dabei leicht danebenliegen.« Sie sah sich die stümperhaft geschnitzte Hexe genauer an. »Und wie ich sehe, hast du mit Bleistift ›Hexe‹ draufgeschrieben. Äh … weißt du, als ich gesagt habe, dass man dabei leicht mal danebenliegen kann? Na ja, manchmal kann man dabei aber auch so großes Unheil anrichten, dass ›danebenliegen‹ gar kein Ausdruck mehr dafür ist.«
Lätitia nickte. Ihre Unterlippe zitterte.
Der Druck in Tiffanys Kopf wurde immer unerträglicher. Der bestialische Gestank war so stark, dass sie ihn fast mit Händen greifen konnte. Sie versuchte, sich auf den kleinen Bücherstapel zu konzentrieren, der auf dem Bibliothekstisch auslag – traurige kleine Heftchen, die Nanny Ogg, wenn sie in einer untypisch bissigen Stimmung war, »rosarote Simsalabimbobücher« nannte: Firlefanz für Mädchen, die gern Hexe spielen.
Aber wenigstens war Lätitia fleißig gewesen; auf dem Lesepult, das den ganzen Tisch dominierte, lagen mehrere Notizbücher. Tiffany wollte sich zu ihr drehen, um eine Bemerkung darüber zu machen, aber ihr Kopf wollte nicht. Ihre Zweiten Gedanken drehten ihn immer wieder zurück. Dann hob sich langsam und wie von selbst ihre Hand und schob die albernen Heftchen beiseite. Was Tiffany für die Ablagefläche des Lesepults gehalten hatte, war in Wirklichkeit ein großes Buch – so dick und dunkel, dass es mit dem Holz zu verschmelzen schien. Eisiges Grauen breitete sich in ihr aus, zäh wie schwarzer Sirup, und es mündete im Befehl zur Flucht. Weglaufen sollte sie und … Nein, das war schon alles. Einfach nur weglaufen und nie wieder stehen bleiben. Nie wieder.
»Kannst du mir etwas über das Buch da sagen?«, fragte sie so gefasst wie möglich.
Lätitia sah über ihre Schulter. »Es ist uralt. Ich kenne noch nicht mal die Schrift. Aber ein toller Einband. Und weißt du, was das Komische daran ist? Es fühlt sich immer ein bisschen warm an.«
Hier und jetzt, dachte Tiffany. Hier und jetzt muss ich mich ihm stellen. Von Eskarina weiß ich, dass er ein Buch geschrieben hat. Ob dies vielleicht eine Abschrift davon ist? Aber ein Buch kann doch wohl niemandem schaden, oder? Andererseits enthalten Bücher Ideen, und Ideen können gefährlich sein.
In diesem Augenblick schlug sich das Buch auf dem Pult von selbst auf. Mit einem ledernen Knarzen und einem leisen Flapp! öffnete sich der Deckel. Die Seiten raschelten wie ein auffliegender Taubenschwarm, und dann strahlte es ihr entgegen: ein einzelnes Blatt, das den mitternächtlichen Saal mit gleißendem Sonnenlicht erfüllte. Und durch diese sengende Sonnenglut, durch die brennend heiße Wüste kam eine Figur auf sie zugelaufen, eine Figur in Schwarz …
Instinktiv knallte Tiffany das Buch zu und hielt es mit beiden Händen fest im Arm, wie ein Schulmädchen. Er hat mich gesehen, dachte sie. Ich weiß es. Wie von einem Hieb getroffen, zuckte das Buch in ihren Armen, und sie hörte Worte … Worte, die sie zum Glück nicht
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