Das Multiversum 2 Raum
bewegen, ihm eine Nachricht zu hinterlassen.
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Sie unternahm einen langen Marsch durch die leere Stadt. Lampen schalteten sich auf ihrem Weg automatisch ein und wieder aus, sodass sie sich in einem wandernden Lichtkegel bewegte.
Sie überbrückte die driftenden Blasen auf Überführungen, die aus Keramik zu bestehen schienen; wenn die Blasen sich gegeneinander verschoben, knarrten die Brücken verdächtig. Sie begegnete nur wenigen Leuten. Die Schritte hallten, als ob sie durch riesige Hangars ging.
Madeleine vermochte sich vorzustellen, dass dieser Ort für die zehn-bis zwanzigfache Anzahl der Menschen, die nun hier lebten, errichtet worden war. Und sie dachte an die anderen Kolonien, die verlassen in den Gewässern von Triton dümpelten.
Es stimmte sie traurig, dass nichts – außer ein paar sentimentalen Relikten wie Gemälden – von der Aborigines-Kultur überdauert hatte, die Bens Generation hier etabliert hatte. Was waren schon fünfzehnhundert Jahre auf Triton gegen vielleicht sechzigtausend Jahre in Australien. Aber es schien, dass die Traumzeit-Legenden den Übergang von den uralten Wüsten Australiens in diese geschlossenen High-Tech-Blasen nicht überlebt hatten.
Sie erreichte das Zentrum der kilometerweiten Kolonie. Hier ragte, durch Panoramafenster sichtbar, eine große Struktur aus der zugefrorenen See. Sie ruhte auf einer Säule und weitete sich ein paar hundert Meter über dem Eis zu einem großen kuppelförmigen Panzer. Das Objekt hatte gewisse Ähnlichkeit mit einem Was-serturm. Sie machte konstruktive Elemente aus: Verdunster, Ent-feuchter, Generatoren, Turbinen und Kondensationsröhren. Später erfuhr Madeleine, dass dieser Turm auf einer Wurzel stand, die kilometertief ins Meer ragte.
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Dies war der otec. Der Name war ein Akronym aus dem alten Englisch und stand für Ocean Thermal Energy Converter. Bei dieser Art der Energiegewinnung machte man sich die Temperaturdif-ferenz zwischen dem Tiefenwasser, das mit vier Grad dicht über dem Gefrierpunkt lag und dem OberflächenEis mit minus hundert Grad zunutze. Der otec war die wichtigste Energiequelle der Kolonie. Er war fünfzehnhundert Jahre alt, so alt wie die Kolonie selbst und wurde von den Kolonisten mit geradezu mönchischer Hingabe gewartet. Es gab auch noch andere Energiequellen wie Fu-sionskraftwerke. Aber die Kolonisten waren knapp an Metall; der nächste Gesteinskörper war nämlich Tritons Silikatkern, der unter ein paar hundert Kilometern Wasser begraben lag. Die Kolonisten betrieben den otec, diese klobige Maschinerie, mit Material, das sie aus dem Wasser gewannen.
Nachdem sie ein paar Tage vertrödelt hatte, sah sie, dass die Kommunikationsanlage grün glühte. Verwirrt stocherte sie darauf herum.
Es stellte sich heraus, dass eine Nachricht von Rush-Bayley vorlag.
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Adamm Rush-Bayley war groß, dünn und hatte einen dunklen Teint. Er trug einen weiten Kittel, unter dem nackte Beine hervor-lugten. Der Kittel leuchtete in allen Farben des Regenbogens und bildete einen netten Kontrast zu der tristen Umgebung.
Er war siebzig Jahre alt, obwohl man ihm das nicht ansah.
Er hatte natürlich keine Ähnlichkeit mit Ben oder Lena. Hatte sie gehofft, etwas von Ben wiederzufinden, von ihrer verlorenen Vergangenheit? Eine Ähnlichkeit mit Ben war doch illusorisch an-589
gesichts der sechzig Generationen, die Rush-Bayley von ihm trenn-ten.
Aber seine Familie hatte das Andenken an Ben und seine Geschichte bewahrt – und die Geschichte des Nereide-Einschlags. Er musterte sie mit verhaltener Neugier. »Sie sind dieselbe Madeleine Meacher, die …«
»Ja.«
»Das ist wirklich außergewöhnlich. Natürlich haben wir Aufzeichnungen.« Er lächelte. »Es gibt ein öffentliches Archiv, und meine Familie hat eigene Erinnerungsgegenstände. Vielleicht möchten Sie sie einmal sehen.«
»Vergessen Sie nicht, ich bin wegen der Lebenden hier.«
»Ja. Sie müssen faszinierende Geschichten zu erzählen haben.«
So begeistert klang er gar nicht, sagte Madeleine sich; sie begriff, dass er ihr lieber die Aufzeichnungen präsentieren wollte, die seine Familie stolz aufbewahrte, als von ihr einen Geschichtsvortrag zu hören. Die Vergangenheit war etwas, das man besaß, in Kisten und Archiven speicherte und nichts, das man erforschte.
Es war aber nicht das erste Mal, dass sie mit einer solchen Reaktion konfrontiert wurde.
In seiner Unterkunft, einer Höhle mit mehreren Kammern, bereitete er ihr eine Mahlzeit. Das Hauptgericht war
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