Das Salz der Mörder
euch für ein paar Monate aus dem Verkehr zu ziehen. Dann
dürft ihr Weihnachten, Silvester und Ostern zusammen in einer Zelle feiern.“
Daniel
grinste den Bahnpolizisten freundlich an: „Aber Herr Oberkriminalrat, das wird
nicht nötig sein. Ich feiere meine Feste lieber zuhause. Für mich ist die Sache
ohnehin erledigt. Wir werden friedlich abziehen. Meine Freunde und ich sind nur
hier, um Sie als unseren Zeugen dabei zu haben. Wenn meiner Mutter oder mir
etwas zustoßen sollte, wissen Sie bereits im Voraus wer dahinter steckt. Ich
hoffe, Sie werden darüber einen Bericht anfertigen. Das Vernünftigste wäre
sicherlich, Sie nehmen gleich ein Protokoll über diesen Vorfall auf, dann ist
jeder zufriedengestellt. Stimmt doch, Franz, oder? Kommen Sie, Herr Kommissar,
gehen wir auf Ihr Bahnhofsrevier. Ich unterschreibe alles . . .“
56. Eine Idee kentert
Einige
Tage vor Heiligabend stellte ich bestürzt fest, dass sich die Theorie zur
Praxis analog verhält, wie die Anode zur Kathode. Also: Die positive Theorie
hat mit der negativen Praxis eben soviel zu tun wie Ebbe und Flut. Zu dieser
späten und deprimierenden Erkenntnis kam ich, weil ich mittlerweile
dreihundertvierundzwanzig leere Plastikflaschen gesammelt und auf Marias
Dachboden versteckt hatte. Sie wusste das, und sie wusste genau, was ich mit
diesen Flaschen beabsichtigte. Zu meiner eigenen Beschämung muss ich ehrlich
eingestehen, dass der Konstruktionsplan von diesem Wasserfahrzeug in der
Realität nicht dem entsprach, was mir in meiner ersten Euphorie theoretisch
vorschwebte. Mein Projekt hielt ich zwar nach wie vor für genial, doch
währenddessen ich begann die ersten Flaschen mit Spezialkleber, den mir Maria
besorgt hatte, zusammenzukleistern, brach es aus mir heraus: Ich fing an zu
lachen, ich fing an mich auszulachen. Und somit erklärte ich meinen eiskalten
Fluchtplan als in der Nordsee gekentert und ein für allemal abgesoffen.
Nach
diesem geistigen Tiefflug versuchte ich über mich selbst nachzudenken und
stellte mir drei existentielle Fragen: Wer war ich? Wer bin ich? Wer möchte ich
sein? Vorerst kam ich auf eine ganz einfache Kurzformel, und die lautete: Ich
war ein Arsch; ich bin ein Arsch; ich möchte kein Arsch mehr sein. Ich wollte
tiefer in mich eindringen und erkannte, dass mein Kuwait-Trauma nicht
ausschlaggebend für meine jetzige Misere war, sondern bloß ein verlogener
Vorwand, um meine allgemeinen Unzulänglichkeiten zu verschleiern. Manche nennen
so etwas Selbstbetrug, ich auch. Demzufolge ging ich weiter zurück. Zurück zu
den ersten Tagen, an die ich mich verschwommen erinnern konnte - meine
Kindheit. Ich wuchs in einer staatlich geschützten Welt auf, in einer
Käseglocke, die ohne böse äußere Einflüsse real zu existieren schien. Meine
Familie, meine Lehrer und später meine Vorgesetzten trugen dazu bei, dass ich
bis zum Zeitpunkt des ersehnten Zusammenbruchs der Mauer verantwortungslos
blieb, das heißt: ohne eigene Verantwortung, ohne Aufgaben und Pflichten. Ich
hatte die schmeichelhafte Ehre ausschließlich Anweisungen und Befehlen zu
folgen, nicht nach deren Sinn oder Unsinn zu fragen - das wäre Aufstand
gewesen. Ungläubig und sprachlos stand ich plötzlich in der freien westlichen Welt,
hörte die Leute von Marktwirtschaft und Pluralismus reden und sollte
Verantwortung übernehmen. Das musste ja schief gehen, labil und ungefestigt wie
ich war.
Unter
dem Motto „Die Partei hat immer recht“, verlief meine Vergangenheit fast
statisch, von kleinen seismischen, pubertären Erschütterungen einmal abgesehen.
Ich befürchte, Katholiken geht es ebenso, zumal sie einer ähnlichen Maxime
nacheifern „Der Papst ist unfehlbar“. „Extra ecclesiam nulla salus“ - außerhalb
der Kirche kein Heil, denn die katholische Kirche ist die einzige Kirche
Christi. Vereinfacht gesagt: Das Schaf folgt seiner Herde, und die Herde folgt
dem Hirten. Aber ich schweife ab. Was gehen mich Päpste und Parteien an, wenn
ich an Gott glaube? Ich frage Dich abermals, warum Du mir erst jetzt über den
Weg gelaufen bist. Herr? Du hättest mich schon viel früher in Deine Arme
schließen können. Was habe ich denn falsch gemacht und was war verkehrt, dass
Du mir so lange keine Beachtung geschenkt hast? Ich kann nichts dafür, für gar
nichts bin ich verantwortlich: nicht für meine Herkunft, nicht für mein
Aussehen, nicht für meine Bildung, nicht für meinen Charakter, nicht für meine
Zukunft und, und, und - es lag und liegt alles in
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