Das Salz der Mörder
geschossen. Nicht sehr
weit von unserem Standpunkt entfernt, nehme wir das Rattern von Maschinengewehrsalven
wahr. Es ist unfassbar, ich denke an die schrecklichen Fernsehbilder vom
texanischen Waco, wo sich vor wenigen Jahren eine militante Sekte einen
mehrtägigen Kampf mit den amerikanischen Bundesbehörden lieferte. Sollte es
hier zu einem ähnlichen Desaster kommen? Wie ich von mehren Seiten höre, ist
die Schießerei eingestellt worden. Wir wollen jetzt versuchen mit dem leitenden
Staatsanwalt zu sprechen.
ARD
Tagesschau, Hans-Peter Hahn. Herr Staatsanwalt, das ist eine Live-Übertragung
des Ersten Deutschen Fernsehens. Können Sie uns bitte einige Erläuterungen über
die Vorgänge in Wusterwalde geben? Soeben wurde geschossen. Was ist geschehen?“
„Sie
sehen mich, nicht wahr? Sie sehen mich ganz deutlich, wie ich hier vor Ihnen
stehe, leibhaftig, und Sie sahen mich, als ich vor einer Minute mit unserem
Einsatzfahrzeug und meinen Männern in dieses Dorf eingetroffen bin. Da liegt
sicher die Vermutung nahe, dass ich über diesen Schusswechsel noch nicht
unterrichtet werden konnte, weil ich ja eben erst eingetroffen bin. Das
verstehen Sie doch, oder?“
„Sie
haben vollkommen Recht. Ich vermute, wir sind alle ein bisschen nervös in der
letzten Zeit. Bitte entschuldigen Sie. Dem Vernehmen nach ist das Oberhaupt
dieser obskuren Gemeinschaft eine Frau, die sich durch Seminare und
Publikationen für Führungskräfte bundesweit einen anerkannten Namen in der
Wirtschaftswelt gemacht hat. Seit wann weiß man, dass diese Frau geistesgestört
ist?“
„Das
weiß man doch gar nicht. Wer hat Ihnen denn diese Information hinterbracht? Bis
heute ist die Frau im juristischen Sinne mutmaßlich eine Kriminelle. Wenn in
der Bundesrepublik Deutschland unser gesamtes kriminelles Potenzial, das uns
allerorts umgibt, geistesgestört wäre, müssten wir, anstatt
Justizvollzugsanstalten neue Nervenkliniken bauen und, anstatt zuverlässiges
Wachpersonal erstklassig ausgebildete Psychologen in Dienst nehmen.“
„Ja,
aber wo liegt die Grenze zwischen bewusst kriminellen Aktivitäten und unbewusst
psychischen Störungen?“
„Ich
bin nicht in der Lage Ihnen diese Fragen zu beantworten. Sie sollten sich an
die Sachverständigen wenden. Sehen Sie, ich bin Staatsanwalt, Beamter des
höheren Dienstes bei der Staatsanwaltschaft München. Ich muss die Befähigung
zum Amt eines Richters nachweisen. Ich bin Jurist und kein Psychiater. Bitte
entschuldigen Sie mich. Ich bekomme gerade ein Handzeichen von meinem
Assistenten. Offenbar gibt es neue Erkenntnisse.“
„Der
Staatsanwalt geht zum Fahrzeug hinüber und unterhält sich in diesem Augenblick
angeregt mit seinen Mitarbeitern. Was ist geschehen, liebe Zuschauer, gibt es
eine positive Wende im Drama von Wusterwalde oder . . .? Der Staatsanwalt winkt
uns zu. Es sieht so aus, als ob wir zum Wagen kommen sollen. Wenn die Kamera
nun herüber schwenkt, können auch Sie zuhause an den Fernsehgeräten sehen, wie
wir mit dem Ermittlungsteam in einen Kleinbus steigen. Welch wunderbare Fügung,
liebe Zuschauer, hier spricht immer noch Hans-Peter Hahn von der
Tagesschauredaktion Hamburg, live im Sonntagmorgenprogramm der ARD. Es ist neun
Uhr fünfzig.
Herr
Staatsanwalt, darf ich nochmals auf die Schüsse von vorhin zurückkommen?“
„Ja.
Einer unserer jüngeren Kollegen verlor scheinbar die Nerven und schoss ohne
ersichtlichen Grund in die Fenster der ersten Etage des Rathauses. Wir mussten
ihn verständlicherweise von diesem Einsatz abziehen.“
„Gibt
es weitere Erkenntnisse?“
„Wir
werden jetzt zu diesem Weißen Rathaus fahren. Sagen Sie Ihrem Kameramann und
Ihrem Tonmeister, sie möchten sich bereit halten. Hier, nehmen Sie die
kugelsicheren Westen.“
„Liebe
Zuschauer, wie Sie selbst sehen, wirkt das malerische Dorf wie ausgestorben.
Nur die schweren Polizeifahrzeuge stehen bedrohlich an den Straßenrändern. Die
uniformierte und bewaffnete Truppe durchsucht hektisch jedes Haus nach
Verdächtigen. Außer ihnen ist niemand zu sehen. Vermutlich halten sich die
meisten Dorfbewohner im nahegelegenen Rathaus auf. In diesem Moment haben wir
den Platz vor dem so genannten Weißen Haus erreicht. Eine Wagenburg aus
gepanzerten Fahrzeugen ist im Halbkreis dicht an dicht um den Vorplatz
aufgestellt worden. Dahinter stehen, in Deckung der metallenen Schützenwagen,
annähernd fünfzig Scharfschützen, die ihre Waffen auf den Eingang des Rathauses
gerichtet halten. Durch die engen
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