Das Ultimatum
sagte schließlich: »Michael, ich möchte dich um einen großen Gefallen bitten.«
»Was kann ich für dich tun?«
»Ich habe beschlossen, morgen mitzugehen, wenn die Särge vom Kapitol zum Weißen Haus gebracht werden … und ich habe mich gefragt … ob du mich vielleicht begleiten würdest?«
»Ich habe gedacht, sie wollen nicht, dass irgendjemand mitgeht?« O’Rourke hatte eine Mitteilung in sein Büro bekommen, wonach man beschlossen hatte, dass keine Senatoren und Abgeordneten die Särge zum Weißen Haus begleiten sollten.
»Michael, ich bin Senator der Vereinigten Staaten. Niemand kann mir sagen, dass ich da nicht mitgehen darf. Ich habe lange darüber nachgedacht. Ich habe über dreißig Jahre mit diesen Männern zusammengearbeitet, und auch wenn sie mir nicht sehr nahe gestanden haben, betrachte ich es doch als meine Pflicht, dieses eine Mal an ihrer Seite zu stehen. Irgendjemand in dieser Stadt muss doch auch ein wenig Mut zeigen.«
»Warum willst du dein Leben aufs Spiel setzen, nur um vier Männern die letzte Ehre zu erweisen, die zu den ehrlosesten Leuten gehört haben, die je in ein öffentliches Amt gewählt wurden? Sie waren eine Schande für das Land! Ich verstehe gar nicht, wie du auf so eine Idee kommen kannst!«
Olson war nahe daran, die Beherrschung zu verlieren. »Es tut mir Leid, dass du das so siehst, Michael. Wenn ich gewusst hätte, dass du diese Leute derart verabscheust, hätte ich dich nie darum gebeten, mich zu begleiten.« Ohne sich zu verabschieden, knallte er den Hörer auf die Gabel.
O’Rourke blickte auf das Telefon hinunter und überlegte, ob er Olson zurückrufen sollte. Er besann sich anders und legte den Hörer auf. Er war innerlich zerrissen zwischen seiner Loyalität gegenüber Olson und seiner Verachtung gegenüber all dem, was Leute wie Koslowski aus Amerika und seinem politischen System gemacht hatten. Der bloße Gedanke, ihnen irgendeine Ehre zu erweisen, machte ihn schon wütend. Seine Entscheidung wäre ganz einfach gewesen, wenn da nicht die Tatsache gewesen wäre, dass er Erik Olson mehr verdankte als jedem anderen Menschen auf der Welt. Erik und Alice Olson waren enge Freunde von O’Rourkes Eltern gewesen. Nachdem seine Eltern gestorben waren, hatte sich Olson sehr um ihn und seine jüngeren Geschwister bemüht. O’Rourke betrachtete das Bild an der Wand gegenüber. Es zeigte ihn am Tag seines Hochschulabschlusses, und links und rechts von ihm standen die Olsons. Michael ließ den Blick über die anderen Bilder schweifen, die da hingen, und musste erkennen, dass die Olsons auf vielen von ihnen zu sehen waren. Sie waren in den vergangenen zehn Jahren ein wichtiger Teil seines Lebens gewesen – ja, sie hatten sich bemüht, den elternlosen Kindern das Gefühl von Familie zu vermitteln.
Michaels Blick fiel auf ein gerahmtes Schwarzweißfoto, das seine Mutter kurz vor ihrem Tod gemacht hatte. Es zeigte den See und den Wald vor dem Ferienhäuschen der Familie in Nordminnesota. Eine frische Schneedecke lag auf dem zugefrorenen See und lastete schwer auf den Ästen der Kiefern. Dieses wunderschöne Foto, das kurz nach einem Schneesturm aufgenommen worden war, erinnerte ihn stets an diese traurige Zeit in seinem Leben. In den ersten Jahren nach dem Tod seiner Eltern war er oft nahe daran gewesen, es herunterzunehmen, weil er die Gefühlsregungen vermeiden wollte, die es in ihm auslöste, aber er hatte es dann doch immer hängen lassen – einerseits aus Respekt gegenüber seinen Eltern, andererseits, weil er fand, dass es besser war, sich dem Schmerz und der Angst zu stellen, als davor wegzulaufen.
Während er das Bild betrachtete, dachte er an das Begräbnis seiner Eltern zurück. Er erinnerte sich noch sehr gut an jenen kalten, windigen Tag auf dem schneebedeckten Friedhof. Während die anderen schon in den Autos saßen, stand er noch am Grab, um noch einmal allein von seinen Eltern Abschied zu nehmen. Er wusste nicht mehr, wie lange er so dagestanden hatte, er erinnerte sich nur an die Kälte und daran, dass er alles verschwommen gesehen hatte, weil die Tränen nicht aufhören wollten zu fließen.
Michael erinnerte sich nun auch daran, dass es Erik Olson gewesen war, der damals zu ihm ans Grab gekommen war und ihn weggeführt hatte – zurück zu seinen Geschwistern. Er drehte sich um und sah Liz in der Schlafzimmertür stehen. Er breitete die Arme aus, und sie trafen sich in der Mitte des Flurs. Michael zog sie eng an sich, küsste sie auf die Wange und
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