Das verstummen der Kraehe
Ellenbogen auf und verbarg für Sekunden das Gesicht in den Händen. Schließlich ließ sie die Hände sinken, als ergebe sie sich.
»Dann sind Sie durch Beate Angermeier an die Samenspende gekommen«, schloss Henrike.
Rena Veltes Blick irrte zwischen uns beiden hin und her. »Sie …«, setzte sie zu sprechen an, musste sich aber erst einmal räuspern. »Sie beide wissen nicht, was es heißt, ein sterbenskrankes Kind zur Welt zu bringen, es zu Tode zu pflegen, Stunde für Stunde und Tag für Tag, und an dem Schmerz, den Ihnen die Liebe zu Ihrem Kind bereitet, fast zu zerbrechen. Es leiden zu sehen und ihm nicht helfen zu können. Dieses Kind schließlich in Ihren Armen in den Tod zu wiegen und es zu begraben.« Sie hielt kurz inne und schluckte. »Und mit der Trauer in Ihrem Herzen nehmen Sie irgendwann all Ihren Mut zusammen und wagen es noch einmal, ein Kind in die Welt zu setzen. Genauer ausgedrückt: Sie möchten es wagen. Aber Sie scheitern, einmal, zweimal. Und dann ist es irgendwann der Mut der Verzweiflung, der Sie treibt. Ich habe im Ausland eine Klinik gefunden, in der ich nicht nach der Zustimmung meines Mannes für eine Samenspende gefragt wurde. Ich habe dort ein Foto von ihm vorgelegt und darum gebeten, einen Samenspender auszusuchen, der meinem Mann ähnlich sieht. Ihre Sehnsucht nach Ihrem Bruder wird Ihnen einen Streich spielen, Frau Mahlo.« Sie versuchte ihren Worten mit ihrem Blick Nachdruck zu verleihen. »Wäre Sebastian mit dem Samen Ihres Bruders gezeugt worden, hätte ich doch seinen Namen niemals ins Spiel gebracht, nicht einmal Theresa gegenüber.«
»Auch wenn dieses Argument einleuchtend klingt«, wandte Henrike ein, »wäre es interessant zu erfahren, wo im Ausland Sie waren. Können Sie uns dazu etwas sagen?«
»Das möchte ich nicht. Aber ich bitte Sie beide inständig, dass unser Gespräch für immer in diesen vier Wänden bleibt. Für Theresas Erbsache hat es keinerlei Relevanz. Sollte bei meinem Mann aber nur der Hauch eines Zweifels an seiner Vaterschaft aufkommen, könnte ich mir das nie verzeihen. Tilman hat damals sehr darunter gelitten, dass unser erster Sohn durch seine genetische Belastung schwer krank geboren wurde und schließlich daran gestorben ist. Wüsste mein Mann von der Samenspende, würde das nicht nur unsere Ehe zerstören, sondern auch ihn.«
»Wer weiß überhaupt davon?«, fragte ich.
»Ich habe es bisher nie jemandem erzählt.«
Henrike änderte ihre Sitzhaltung und beugte sich vor. »Demnach können Sie sehr gut schweigen, Frau Velte«, sagte sie voller Bewunderung. »Ich habe bisher nur ganz wenige Menschen kennengelernt, die diese Kunst bis zur Perfektion beherrschen.«
»Ich kann nicht nur gut schweigen, ich kann auch gut verdrängen«, sagte Rena Velte mit einem fast erleichterten Unterton. Sie schien anzunehmen, dass die Tortur für sie endlich ein Ende hatte, ging zum Herd und füllte die Spaghetti ins sprudelnde Wasser.
»Ich habe noch etwas festgestellt«, fuhr Henrike fort, »wer gut schweigen kann, kann in der Regel auch gut lügen. Ich nehme Ihnen das mit der Klinik im Ausland nicht ab. Wozu in die Ferne schweifen, wenn ganz in der Nähe eine Freundin mit Zugriff auf eine Samenbank sitzt? Noch dazu eine, die das Schweigen schon aus beruflichen Gründen zur olympischen Disziplin erhoben hat. Und da wären wir dann wieder bei Ben Mahlo.«
»Hören Sie auf damit! Das ist reine Spekulation!«
»Ich brauche nur ein Haar von Sebastian, um einen DNA-Abgleich mit meinem Bruder zu veranlassen«, sagte ich.
»Das ist verboten!« Sie schien an die Grenze dessen zu kommen, was sie an Bedrohung ertrug.
»Verlassen Sie sich nicht darauf, dass ich mich in diesem Fall an die Gesetze halte.«
Als hätte das Schicksal die Fäden gezogen, stürmten in diesem Augenblick Sebastian und zwei seiner Spielkameraden in die Küche. Rena Veltes Sohn riss die Kühlschranktür auf, holte Apfelsaft und Sprudel daraus hervor und baute alles neben seiner Mutter auf, die damit begann, Schorle in fünf Gläser zu mischen. Dann stellte sie die Gläser auf ein Tablett und bat die Jungen, ihr in den Garten zu folgen. Dabei ließ sie Sebastian nicht aus den Augen und gab acht, dass er vor ihr die Küche verließ.
»Bist du dir bei der Ähnlichkeit hundertprozentig sicher?«, fragte Henrike leise.
»Auf den ersten Blick war ich es«, antwortete ich zögernd. »Wenn ich ihn allerdings genau betrachte, weicht einiges von Ben ab. Aber er hat die Augen- und die Haarfarbe
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