Das verstummen der Kraehe
»Ihre Freundin Rena hat zugegeben, dass ihr Sohn mit Spendersamen, den Sie ausgesucht haben, gezeugt wurde«, hielt ich Beate Angermeier entgegen. »Insofern sind unsere Vermutungen nicht mehr ganz so hanebüchen. Ich habe Sebastian Velte gesehen. Er sieht aus wie mein Bruder in dem Alter. Ist der Junge mit Spendersamen meines Bruders gezeugt worden?«
Beate Angermeier lehnte die Gehhilfen gegen den Sessel, setzte sich uns gegenüber und sah uns schweigend an. Was hinter ihrer Stirn vor sich ging, war nicht zu ergründen.
»Ich werte Ihr Schweigen als ein Ja«, sagte Henrike mit einer Ruhe, um die ich sie beneidete. »Nehmen wir also einmal an, es habe sich so zugetragen. In dem Fall hätte Ihre Freundin von Ihnen den Samen eines Homosexuellen bekommen, der einige Zeit später spurlos verschwunden ist und immer noch als vermisst gilt. Wer könnte davon erfahren haben?«
Die Ärztin lächelte Henrike mitleidig an. »Niemand. Und wären Sie nicht zu Rena gegangen und hätten ihr das mit der Ähnlichkeit auf die Nase gebunden, wäre es auch dabei geblieben.«
»Ihre Freundin wusste also nicht, mit wessen Samen ihr Sohn gezeugt wurde?«, fragte ich.
»Selbstverständlich nicht! Wir sichern unseren Samenspendern Anonymität zu. Diese Garantie nehme ich sehr ernst. Vom Profil des Spenders kann man nicht auf seine Identität schließen.«
»Es gibt aber Vorschriften, die Sie bei Weitem nicht so ernst genommen haben, nicht wahr? Immerhin hätte Tilman Velte der Samenspende zustimmen müssen. Wenn ich seine Frau richtig verstanden habe, ist Sebastian ohne sein Wissen gezeugt worden. Besteht die Möglichkeit, dass er es herausgefunden hat?«
Sie blies Luft durch die Nase und schüttelte den Kopf. »In dem Fall hätte er ganz sicher seine Konsequenzen gezogen.«
»Konsequenzen welcher Art?«, hakte Henrike nach.
Sie sah uns an, als wären wir fern jeder Realität. »Er hätte sich von Rena getrennt und ihr freiwillig das Sorgerecht überlassen. Tilman ist nicht der Mann, der das Kind eines anderen großzieht, und schon gar nicht das eines Homosexuellen. Das hätte sich mit seinem männlichen Stolz nicht vertragen. Deshalb sollten Sie sehr sorgsam mit Ihrem Wissen umgehen.«
»Und Sie haben später nicht einmal Ihren Mann oder Fritz Lenhardt eingeweiht?«
»Sehe ich aus, als könne ich ein Geheimnis nicht alleine schultern? Was ich getan habe, war ein Freundschaftsdienst für Rena.«
»Das heißt, Sie haben die Angelegenheit außerhalb der offiziellen Buchhaltung laufen lassen. Verstehe ich Sie da richtig?«
Wieder antwortete Beate Angermeier mit Schweigen.
»Was ist, wenn Sebastian eines Tages etwas über seinen biologischen Vater wissen will?«, fragte ich.
»Die Frage stellt sich nicht. Für Sebastian wird immer Tilman der biologische Vater sein.«
Henrike beugte sich vor. »Seit 1989 gehört es zu den Persönlichkeitsrechten des Menschen, seine genetische Abstammung zu kennen.«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Sie sind verpflichtet, die entsprechenden Daten aufzubewahren. Ich gehe mal davon aus, dass Sie dieser Verpflichtung nachgekommen sind. Hätte jemand diese Daten einsehen können?«
Wir sahen sie beide gespannt an.
»Nein!«, lautete die knappe Antwort.
20
Es war halb sechs, als ich bei leichtem Nieselregen auf das Hofgelände einbog. Den parkenden Autos nach zu urteilen, hatte Arne im Weinladen immer noch gut zu tun. Auch vor Henrikes Trödelladen gingen zwei Frauen auf und ab. Sie verabschiedete sich von mir, sprang aus dem Wagen und sprintete über den Hof. Ich hörte noch, wie sie sich bei den beiden entschuldigte. Sekunden später hatte sie ihren Laden aufgeschlossen und war mit den Frauen darin verschwunden.
Einen Moment lang blieb ich unschlüssig im Regen stehen. Mir schwirrte der Kopf, und alles in mir sehnte sich nach Bewegung. Gleichzeitig spürte ich, wie hungrig ich war. Mein Fahrrad stand immer noch vor dem Menzingers . Das ließ sich gut verbinden. Also stülpte ich die Kapuze meines Pullis über den Kopf und wollte mich gerade zu Fuß auf den Weg machen, als Henrike angelaufen kam und mir einen kleinen Gegenstand an einer Schlaufe in die Hand drückte. Den Personenalarm hätte sie fast vergessen, der sei für mich. Sobald ich die Schlaufe zöge, würde es richtig laut. Ich fragte sie, ob ich ihr und Arne eine Pizza mitbringen sollte, aber sie winkte ab. Arne wolle sie am Abend unbedingt bekochen und dabei all ihre Sinne für sich einnehmen, schickte sie mit einem Augenzwinkern
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