Dead End: Thriller (German Edition)
Polizei?
Der Kerl mit der Videokamera stand näher als der Rest, und in diesem Moment war es mir wirklich egal, ob meine Tarnung aufflog, ich würde ihm eine verpassen. Ich vergaß die Kette und ging auf ihn los. Ich kam einen Meter weit und sah das Erschrecken in seinen blauen Augen, ehe ein stechender Schmerz durch meinen Knöchel zuckte. Gleich darauf fand ich mich der Länge nach im Schlamm wieder. Noch mehr Gejohle. Und Stimmen, die sich aus der Menge erhoben.
»Ich glaube, das reicht jetzt, Jungs. Kommt schon, lasst sie laufen.«
Wer immer das war, sie achteten nicht auf ihn. Sechs weitere Eimer mit eiskaltem Wasser wurden über mir ausgeschüttet, während ich am Boden lag. Ich würde gern denken, dass ich dort liegen blieb, fest zusammengerollt, das Gesicht hinter meinem Arm verborgen, weil ich meine Tarnung als Laura Farrow nicht aufgeben konnte, aber sicher bin ich mir nicht. Ich wollte einfach nur, dass es vorbei war. Ich wollte, dass es vorbei war, bevor ich lauthals losheulte. Während ich in einem fort zitterte, hörte ich mehrere Stimmen brüllen, dass das jetzt genug sei. Dann war eine warme Hand an meinem Knöchel, und die kalte Kette wurde weggenommen. Jemand fasste mich unter den Armen, und ich stand wieder auf den Füßen.
»Alles okay, Süße?«, fragte ein Akzent aus dem Norden. Keiner von den maskierten Jungs. Die waren in der Nacht verschwunden.
»Sieht sie vielleicht aus, als wäre alles okay, du bescheuerte Nullnummer?« Ein knallgelber Mantel wurde mir um die Schultern gelegt, und ich wurde von meiner winzigen Mitbewohnerin wieder nach drinnen gelotst. Ich hob den Kopf und schob mir das Haar aus den Augen.
»Mein Gott, was wir hier an Matsch reinbringen. Als ob diese Trottel das wegmachen würden. Komm, Schätzchen, rein mit dir!« Ich ließ mich von Talaith ins Haus führen, ging über Linoleum. Meine Füße quatschten bei jedem Schritt schlammig. Talaith führte mich in das Bad am Ende des Flurs. Türen öffneten sich, junge Frauen, die sich zuvor nicht getraut hatten, ihre Zimmer zu verlassen, erschienen im Flur.
»Ist sie okay, Tox?«
»Sie sieht aber gar nicht gut aus.«
»Sie wird schon wieder. Muss nur wieder warm werden. Kann mal jemand Tee machen?« Wir hatten die Badezimmertür erreicht, und Talaith drängte mich hinein. Sie streckte die Hand nach der Dusche aus und drehte das heiße Wasser auf. Dampf begann aufzusteigen. »Na los, Schätzchen«, sagte sie. »Du bist ja total verdreckt. Wärm dich auf. Ich hol dir ein paar Handtücher. Kommst du zurecht? Die Haustür ist abgeschlossen. Die kommen nicht rein.«
Sie redete immer noch, als sich die Tür schloss und ich allein zurückblieb. Ohne mir auch nur die Mühe zu machen, mich auszuziehen, trat ich unter das heiße Wasser und sagte mir, dass mit mir alles okay sei, die Haustür war abgeschlossen, sie kamen hier nicht rein. Es war alles okay.
Zu meinen Füßen wirbelte Schlamm in der Duschwanne. Grashalme und Schottersteinchen verstopften bereits den Abfluss. Ich zitterte immer noch. Talaith irrte sich. Die Tür zu unserem Wohnheim war immer offen. Die Mädchen, die hier wohnten, und ihre Besucher kamen und gingen. Sie konnten jederzeit rein, wann immer sie wollten, und es war bei Weitem nicht alles okay.
30
Berkshire, vor neunzehn Jahren
Die Mutter begann durchdringend zu heulen, als der Sarg hinabsank. Der Vater, fast ebenso grün im Gesicht wie die Blätter auf dem Sargdeckel, fasste sie fester, und ein kollektiver Schauer durchlief die Trauergäste. Dies war immer der Moment des Begreifens. Jemanden, den man so sehr liebte, in die Erde zu legen. Das einzige Kind zu verlieren. Mit dreizehn. Wie ging man damit um?
»Des Menschen Tage sind wie Gras, er blüht wie die Blume des Feldes«, sagte der Pfarrer. »Fährt der Wind darüber, ist sie dahin.«
Der Siebzehnjährige im adretten Uniformblazer einer guten Privatschule betrachtete das vollendete Rechteck des Grabes und stellte sich das reglose, kalte Gesicht des Jungen darin vor. »Das war ich«, sagte er sich. Gewitterwolken ballten sich über ihnen, und er überlegte, ob die Schuldgefühle ihn vielleicht genauso heiß und erbarmungslos treffen würden wie ein Blitz.
Seit der Nachricht, dass der kleine Foster sich eines Samstagmorgens im Schlafsaal erhängt hatte, während der Rest der Schule sich ein Cricket-Match zwischen zweien der Häuser ansah, hatte er auf die Schuldgefühle gewartet. Er hatte die schreckensstarren Gesichter seiner Mitverschwörer
Weitere Kostenlose Bücher