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Der Biss der Schlange: Thriller (German Edition)

Der Biss der Schlange: Thriller (German Edition)

Titel: Der Biss der Schlange: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Spurrier
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deshalb werde ich mich nicht an die Polizei wenden.«
    »Wovor haben Sie denn Angst?«
    »Vor der Wahrheit. Vor den Wahrheiten, die ich vergessen habe.«
    Shaper schüttelte den Kopf, kapierte es immer noch nicht. Sogar Mary runzelte mittlerweile die Stirn und beugte sich fasziniert vor.
    »Vor einigen Jahren«, erklärte der alte Mann und hob die Hände ans Gesicht, »habe ich das hier entdeckt.«
    Seine dünnen Finger legten sich auf seine Unterlippe. Behutsam ergriffen sie die olivfarbene Haut und zogen sie nach vorn, legten den Unterkiefer wie bei einer spontanen Zahnuntersuchung frei. Einen Moment lang war Shaper verwirrt: Die Zähne schienen zwar erstaunlich sauber und ebenmäßig zu sein, aber keinesfalls außergewöhnlich. Dann senkte sich sein Blick eine Winzigkeit, und er begriff, dass die Präsentation nicht den weißen kleinen Grabsteinen galt, sondern der feuchten Falte von Glass’ Lippe.
    Auf der Innenseite prangten tiefe, geschwärzte Narben.
    Eine Brandtätowierung, offenbar mit einem Lötkolben verursacht, bildete ein Wort: VERBRECHER.
    Mit einem fleischigen Schmatzlaut ließ Glass die Lippe zurückklappen.
    »Ich habe keine Ahnung, was ich getan habe«, sagte er mit stetem Blick, »und dabei möchte ich es lieber belassen.«

Kapitel 7
    Shaper fuhr auf Autopilot.
    Es war eine barmherzige Geisteshaltung, ebenso sehr ein Produkt des bevorstehenden, entzugsbedingten Zusammenbruchs wie ein spezielles Talent. Er konnte dadurch jedes Zischen und Klappern seiner chaotischen Psyche ausblenden, jeder zunehmend stärkeren Verzerrung ausweichen, die ihm sein gemartertes Gehirn vorgaukelte, und alle Gedanken an George Glass von sich schieben.
    George Glass mit seinen verängstigten, hilfsbedürftigen Augen …
    Während sich Shaper durch den Verkehr in Canonbury kämpfte, bewegte er das Lenkrad ohne bewusstes Zutun und folgte gewieften Schleichwegen, ohne dafür eine einzige Erinnerung bemühen zu müssen. Er fühlte sich auf eine benommene, abwesende Weise so tief zufrieden wie schon lange nicht mehr.
    Das konnte die Krankheit natürlich nicht zulassen.
    Aus dem Nichts tauchte ein Anflug von Paranoia auf und rüttelte ihn wach.
    Du wirst verfolgt .
    Zwei Scheinwerfer, die heller wirkten, als sie sein sollten, zuckten zum fünften Mal über seinen Innenspiegel. Jemand, so schätzte Shaper es ein, hielt Abstand und achtete darauf, dass sich immer zwei oder mehr Autos zwischen ihnen befanden.
    Oder , meldete sich eine vernünftigere Stimme zu Wort, ein geschlauchter Büroangestellter fährt nach einigen Überstunden nach Hause und weicht den Verkehrsstaus aus. Wir sind hier nicht in einem Bond-Film. In Highbury wird man nicht verfolgt .
    »Es ist nichts«, flüsterte Shaper, als könne er es bestätigen, indem er es laut aussprach. »Idiot.«
    Jedenfalls hatte die mentale Störung seine dissoziative Ruheunwiederbringlich durcheinandergewirbelt, und er dachte an Glass zurück. Schuldbewusst wetzte er mit dem Hintern hin und her. All seine Sicherheit und seine Absichten – scheiß auf den Job, scheiß auf das Geld, scheiß auf Tommy; zurück zur Entgiftung  – waren vor jenen alten, gelblichen Augen verblasst. Letztlich war er aus der Samadhi-Klinik geflohen, bevor das kindliche Flehen des Mannes seine Entscheidung über den Haufen werfen konnte.
    Niemand konnte so aufrichtig liebenswert sein.
    Es hatte geschmerzt , nein zu sagen.
    Shaper bog jäh in eine schmale Straße und glaubte kurz, er hätte den anderen Wagen abgeschüttelt. Doch als er hupte und sich den Weg auf die Camden Road bahnte, sah er sie erneut, die zu hellen Scheinwerfer, die durch den Umgebungsfilter drangen.
    Schwarzer Mercedes. Getönte Scheiben.
    Subtil.
    Es ist nichts. Konzentrier dich aufs Wesentliche, Trottel .
    Jedenfalls hatte nicht allein Glass’ Flehen seine Entschlossenheit bedroht. Auch das Geld hatte in dieser Hinsicht einiges an Gewicht, das ließ sich nicht leugnen. Und auch dass sich Mary Devon, diese Megalügnerin, ins Bild geschoben und wie durch Magie seine Libido wiedererweckt hatte, konnte man nicht ignorieren.
    Aber vorwiegend, das musste er einräumen … ja, vorwiegend lag es an Glass selbst. Die Sache mit der Lippentätowierung hatte Shapers Interesse nur zusätzlich geschürt, als müsste er irgendwie glauben, dass der alte Mann so anständig und ehrlich war, wie er zu sein schien. Selbst das geringste Anzeichen einer gegensätzlichen Wahrheit verursachte ein Jucken, über das sich nicht hinwegsehen ließ. Shaper

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