Der Funke des Chronos
Zukunft darstellt?
Was hatte das zu bedeuten?
Tobias zermarterte sich weiter das Hirn und wandte sich einem Kiesweg zu, von dem aus man einen wundervollen Blick auf die Elbe hatte. Während er sich die Ereignisse der gestrigen Nacht noch einmal durch den Kopf gehen ließ, glitt sein Blick über den unter ihm liegenden Privatkai mit dem Dampfschiff und streifte dann einen mannshohen Obelisken, der etwas versteckt inmitten eines gepflegten Rosenbeetes stand. Er war vollständig aus Marmor gefertigt und zeigte das Bild einer zum Licht hinanschwebenden weiblichen Gestalt in engelhafter Pose. Darunter befand sich eine Inschrift:
Früh bist du am Ziele!
In der Mitten deines Lebens,
Pflückte dich des Todes Hand.
Reihte dich dem Kranz der Geister,
Den der Ewige sich band.
»Herr Tobias?« Carolines Stimme ließ ihn herumfahren. »Hermann Biow wird gleich seine Lichtbilder machen. Wollen Sie nicht … Oh!«
Betroffen schaute ihn Lewalds Tochter an. Sie war nicht weit von ihm entfernt stehen geblieben, und er bemerkte das feuchte Glitzern, das sich jetzt in die hübschen Augen seiner Bekannten stahl.
»Diese Inschrift gilt jemandem, der Ihnen nahe steht, richtig?« fragte er behutsam.
Caroline nickte. »Meiner Mutter. Sie ist vor acht Jahren gestorben. Mein Vater hat diesen Gedenkstein für sie aufstellen lassen.«
»Das tut mir sehr leid«, murmelte er. Caroline trat neben ihn und berührte den Marmor liebevoll mit den Fingerkuppen.
»Mein Vater hat sie damals bei Mattler kennen gelernt. Auf dem Spielbudenplatz. Sie wissen nicht, wer Mattler ist, oder?«
Tobias schüttelte den Kopf.
»Oh, das sollten Sie aber. Jeder in Hamburg kennt Mattler. Damals war er der Direktor eines Marionettentheaters. Solcher Tingeltangel gehört zu Hamburg – wie der Hafen.« Sie lächelte melancholisch. »Meine Mutter hat die Kleidung für seine Puppen genaht. Und manchmal hat sie ihm auch bei den Aufführungen geholfen. Bei einer dieser Vorstellungen hat mein Vater sie gesehen – und sich in sie verliebt. Heute leitet Mattler zusammen mit seinem Kompagnon Dannenberg das Elysium-Theater. Es steht auf dem Spielbudenplatz gleich neben einer Menagerie und ist weit über Hamburg hinaus bekannt. Heute spielen sie mit echten Schauspielern. ›Schinderhannes‹ oder ›Die Räuber auf Maria-Kulm‹, ›Das Käthchen von Heilbronn‹, ›Wilhelm Teil‹ und auch ›Hamlet‹. Es gibt eigentlich nichts, was sie nicht aufführen. Als Kind hat meine Mutter mich oft mitgenommen, und Mattler hat mir zuliebe die lustigsten Possen aufgerührt.«
»Das klingt schön.«
»Ja, das war es auch«, flüsterte Caroline. »Und sie hat Rosen geliebt. Glauben Sie mir, obwohl sie so krank war, war sie die zärtlichste Mutter, die Sie sich vorstellen können. Zeit ihres Lebens hat sie von einem Landsitz wie diesem geträumt. Leider ist mein Vater erst nach ihrem Tod zu größerem Vermögen gelangt. Hier wäre sie gewiss sehr glücklich gewesen.«
Gerührt betrachtete Tobias Carolines blasses Gesicht. Ein bunter Schmetterling stieg von einer der Blüten auf und umtanzte ihre schwarzen Locken. Wehmütig sah sie ihm nach, als er flatternd am Himmel verschwand. Wie schon vorhin in der Droschke wirkte Caroline in diesem Augenblick überaus zerbrechlich. Es kostete Tobias einiges an Überwindung, nicht tröstend nach ihrer Hand zu greifen.
Sie blinzelte – und plötzlich umspielte wieder das ihm schon vertraute ernste Lächeln ihre Lippen. »Ich habe alle Erinnerungen an sie in meinem Herzen bewahrt. Dort lebt sie weiter.«
In einer anmutigen Geste legte sie die Hand auf die Brust. »Und wie steht es um Ihre Eltern? Sind Sie ihnen ebenfalls in Liebe zugetan?«
Tobias schluckte. »Ich … kenne meine Eltern nicht. Ich bin Waise. Man hat mich als kleiner Junge einfach vor einem Waisenhaus abgesetzt.«
»Oh, das ist nicht schön. Dann geht es Ihnen ein klein wenig so wie unserem Jakob.«
»Wie darf ich das verstehen? Jakob ist nicht Ihr leiblicher Bruder?«
»Nein. Mein Vater hat ihn vor zwei Jahren nach dem Waisengrün adoptiert. Ein Volksfest, das wir am 6. Juli feiern. Die armen Waisen in unserer Stadt müssen dann in feierlichem Aufzug zum Steinthor hinauspilgern und auf dem Weg um Spenden betteln. Ganze Kolonnen sind dann auf den Straßen unterwegs. Vor der Stadt werden die armen Würmer mit Kuchen und Bier gespeist und später von den Soldaten wieder zurück in die Stadt eskortiert. Die übrigen Hamburger feiern an diesem Tag. Da draußen
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