Der geheime Zirkel 02 - Circes Rueckkehr
furchtbar traurig« , sagt Ann.
»Wir wollen nicht sentimental werden. Es ist schon sehr lange her. Die Zeit heilt Wunden. Man muss lernen , sich mit unabänderlichen Dingen abzufinden und nicht ständig daran zu denken. Sonst würden wir unser Leben damit verbringen , mit unserem Schicksal zu hadern , ohne irgendetwas zu erre i chen.« Sie leert ihr Glas. Der Riss im Festungswall wurde repariert. Sie ist wieder Mrs Nigh t wing. »Schluss damit. Wer kann uns eine Weihnachtsg e schichte erzählen?«
»Oh , bitte , ich« , ruft Elizabeth. »Eine schaurige G e schichte von einem Gespenst namens Marley mit einer langen Kette …«
Miss McChennmine unterbricht sie. »Meinen Sie A Christmas Carol von Charles Dickens? Ich glaube , diese G e schichte ist uns allen bekannt , Miss Poole.«
Alles kichert auf Kosten von Elizabeth. »Aber es ist meine Lieblingsgeschichte« , schmollt sie.
Cecily zwitschert: »Ich weiß eine wunderschöne Geschic h te , Mrs Nightwing.« Natürlich , wie könnte es a n ders sein.
»Ah , großartig , Miss Temple.«
»Es war einmal ein Mädchen , das war der reinste E n gel. Ihr Charakter war über jeden Zweifel erhaben. Sie war ein Muster an Sanftmut und Bescheidenheit und immer liebenswürdig und hilfsbereit. Ihr Name war Cec i le.«
Ich glaube , ich weiß schon , wie der Hase läuft.
»Leider wurde Cecile von einem Mädchen namens J e mima gepeinigt , das ein richtiges Biest war.« Sie hat die Stirn , mich dabei anzuschauen. »Aus lauter Hass verspo t tete Jemima die arme , reizende Cecile , verbreitete Lügen über sie und hetzte einige ihrer liebsten Freundinnen gegen sie auf.«
»Wie schrecklich« , seufzt Elizabeth.
»Cecile schluckte alles hinunter , ohne sich zu beklagen , bis sie eines Tages unter der Last zusammenbrach , aufs Kranke n bett geworfen durch Jemimas unbarmherzige Grausamkeit.«
»Ich hoffe , dass Jemima die Strafe ereilt , die sie ve r dient« , sagt Martha und verdrückt eine Träne.
»Und ich hoffe , dass Cecile ein früher Tod ereilt« , flü s tert mir Felicity zu.
»Was geschah dann?« , fragt Ann. Es ist genau die Art G e schichte , die sie liebt.
»Alle kamen , um zu erfahren , was für eine niederträc h tige , herzlose Person Jemima war , und sie mieden sie von da an für immer. Als der Prinz von Ceciles Liebreiz hö r te , brachte er seinen Arzt , damit er sie kurierte , und verliebte sich wahnsi n nig in sie. Sie heirateten , während Jemima als blinde Bettlerin durchs Land zog , nachdem ihr wilde Hunde die Augen ausg e kratzt hatten.«
Mrs Nightwing schaut verwirrt drein. »Ich sehe nicht recht , warum das eine Weihnachtsgeschichte sein soll?«
»Oh« , fügt Cecily rasch hinzu. »Das Ganze spielt sich in der Weihnachtszeit ab. Und Jemima sieht ihre Fehler ein , bittet Cecile um Verzeihung und verdingt sich in einem Pfar r hof auf dem Land , wo sie für den Pfarrer und seine Frau die Fußböden schrubbt.«
»Aha« , sagt Mrs Nightwing.
»Die Schrubberei muss schwierig sein , wo sie doch ihre Augen verloren hat« , murmle ich.
»Ja« , erwidert Cecily strahlend. »Ihr Martyrium ist be i spiellos. Das macht es ja gerade zu einer so schönen Wei h nachtsgeschichte.«
»Ausgezeichnet« , sagt Mrs Nightwing , aber es klingt ein bisschen so , als wäre ihre Zunge geschwollen. »Wie wär ’ s mit Singen? Schließlich ist Weihnachten.«
Mr Grünewald setzt sich ans Klavier und spielt ein altes englisches Volkslied. Einige der Lehrerinnen singen mit. Ein paar Mädchen stehen auf , um zu tanzen. Miss McChennmine singt nicht mit. Sie starrt mich direkt an.
Nein , sie schaut auf mein Amulett. Als sie meinen Blick auffängt , lächelt sie mich strahlend an , als habe es nie einen Streit gegeben und als seien wir alte Freunde.
»Miss Doyle« , ruft sie und winkt mir , aber Ann und Felic i ty stürzen auf mich zu.
»Komm schon , lass uns tanzen« , drängen sie , zerren mich auf die Füße und ziehen mich mit sich fort.
* **
Der Abend vergeht wie ein schöner Traum. Für viele der jü n geren Mädchen war die Aufregung zu groß. Eng aneinande r geschmiegt , ihre Engelsflügel zerknittert , mit Z u ckerwatte und verrutschten Stechpalmenkränzen im wi r ren Haar , schlummern sie selig beim Feuer. In einer Ecke sitzen Mrs Nightwing und Miss McChennmine und st e cken die Köpfe z usammen. Miss McChennmine spricht in einem eindringl i chen Flüsterton und Mrs Nightwing schüttelt den Kopf.
»Nein« , sagt unsere Direktorin. Ihre Stimme ist vom
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