Der Gentleman
wie Robert es ihr auf getragen hatte, bewegte sich Lucia, festgeklammert an Roberts Körper, ein, zwei Schritte flußabwärts. Mit den Zehen des linken Fußes ertastete sie zuerst den linken der zwei verfluchten Felsen, pflanzte die Sohle auf ihn, gewann Halt.
»Hast du ihn?« fragte Robert, der mit jeder Faser seiner wahrnehmenden Sinne ihre Bemühungen verfolgte.
Sie nickte.
»Stehst du fest?«
Sie nickte wieder.
»Jetzt den rechten«, sagte sie selbst.
Das gleiche Spiel wiederholte sich mit ihren rechten Zehen, ihrer rechten Sohle, bis diese auf dem rechten Stein Halt gewonnen hatte.
»Fertig?« fragte Robert.
»Ja.« Triumph klang aus ihrer Stimme.
»Dann zieh!«
Mit halbverdrehtem Körper löste Lucia die Umklammerung, mit der sie sich an Robert festgehalten hatte, wandelte sie um in einen Griff unter seine Achseln. Da dieses Manöver wieder die Gefahr auszurutschen mit sich brachte, ließ Lucia immer noch größte Vorsicht walten. Dann teilte sie Robert überflüssigerweise mit: »Ich habe dich unter den Achseln.«
»Ich spüre es. Zieh!«
Und plötzlich ging alles relativ leicht. Der Schraubstock, in dem Robert zu stecken glaubte, lockerte sich. Unter welchen Schmerzen für ihn das geschah, das durfte man ihn allerdings nicht fragen. Lucia zog und zerrte mit einer Gewalt, die sie sich selbst nie zugetraut hätte, und als sie ihren ersten Erfolg verspürte, gab ihr das die Kraft, ihren Einsatz noch zu verdoppeln. Wie eine gekochte Schnecke aus ihrem Haus wurde Robert aus seinem Loch herausgezogen. Er gab keinen Laut von sich, biß sich auf die Lippen. Erst als er sich befreit fühlte, verschaffte er sich Luft.
»Aaauuu!« brüllte er langgezogen.
Es war ein Schrei, für den sich der Schmerz, wie es Robert schien, seit einer Ewigkeit angesammelt hatte.
Hätte es Piranhas in diesem Gewässer gegeben, so wäre das Ende Roberts und Lucias besiegelt gewesen. Diese fürchterlichen Raubfische Südamerikas werden bekanntlich von einem einzigen Blutstropfen im Wasser angelockt, um alles, was sich da regt, zu zerfleischen. Und Robert vermengte nicht nur mit einem Tropfen die Fluten, von denen er und Lucia umspült wurden.
Die beiden waren noch nicht in völliger Sicherheit. Der Fluß war zwar schmal, das Ufer lag nahe, aber um es zu erreichen, mußten sie raus aus der Strömung, von der sie jederzeit wieder fortgerissen werden konnten, wenn sie sich die geringste Nachlässigkeit gestatteten. Bis zum Wasserfall, der ihnen, wenn er sie zu fassen gekriegt hätte, wahrscheinlich alle Knochen gebrochen hätte, konnte man hinspucken; keine fünf Meter lagen zwischen ihm und den beiden.
Zum linken Ufer waren es schätzungsweise zwölf Meter, zum rechten vierzehn.
Lucia wandte sich instinktiv zum linken.
»Nein«, sagte Robert und nickte mit dem Kopf zum rechten Ufer. »Dorthin.«
»Aber zu diesem«, widersprach Luca, zum linken nickend, »ist es näher.«
Roberts Wahl erwies sich als die richtige.
»Siehst du nicht«, sagte er, »daß das Wasser dort viel stärker reißt?«
Darin unterscheiden sich eben Männer manchmal auch von den klügsten Frauen: daß sie sich in gewissen Situationen nicht vom Instinkt leiten lassen, sondern vom Verstand.
»Also komm«, sagte Robert.
Sie hielten einander, Bauch an Bauch, in ihren Leibesmitten umfaßt, flußaufwärts Robert, flußabwärts Lucia, und setzten ihre Schritte seitwärts. Der Kampf, den sie noch einmal zu bestehen hatten, erforderte ihre ganze Aufmerksamkeit. Die Wellen schoben und zerrten an ihnen mit einer Wut, die lebenden Wesen eigen zu sein schien.
»Nur keine Angst«, redete Robert immer wieder beschwörend auf Lucia ein. »Nur keine Angst …«
Endlich hatten sie es geschafft. Der Sieg war errungen. Sie hatten Land unter ihren Füßen. Sie standen im Gras. Und jetzt erst konnte Robert, dem Wasser entronnen, seine Verletzungen in Augenschein nehmen. Er sah an sich herunter. Lucias Blick folgte dem seinen.
»Mein Gott!« stieß sie hervor.
Fast von den Knien an bluteten Roberts Beine an ihren Außenflächen stark. Ursache waren die enormen Hautverluste, die zu beklagen waren.
»Was mußt du ausgestanden haben«, bemitleidete Lucia ihn.
»Vergnügen war es keines«, brummte er.
»Was könnte ich tun?«
»Nichts. Gewaschen sind ja die Wunden, wenn auch nicht antiseptisch. Das beste wird jetzt sein, sie von der Sonne trocknen zu lassen, damit die Bluterei aufhört.«
»Setz dich doch«, meinte sie.
In ihrer Sorge vergaß sie, daß sie beide
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