Der goldene Schwarm - Roman
Verspätung.
»Deiner Mutter geht es gut, Joe«, sagt Mercer sachlich. »Die Kirche hat sie versteckt – ich bin mir sicher, dass du mit ihr sprechen kannst, wenn du möchtest.«
Joe wendet sich wieder dem Studium des Sitzes zu und streckt schließlich die Hand aus, um mit der losen Ecke zu spielen. Er klappt sie hin und her, bis Polly ganz zärtlich seine große Hand in ihre beiden kleineren nimmt, sie wegzieht und küsst, als hätte er sich verbrannt. Sie fragt ihn nicht, ob es ihm gut geht.
»Mir geht es gut«, sagt er etwas undeutlich, und erst in diesem Moment stellt er fest, dass dies tatsächlich stimmen könnte. Wenn sich doch nur die Farben von Polly aus auf die ganze Welt ausbreiten würden.
Sie schafft es, nicht in Tränen auszubrechen, aber sie ist nahe daran. Stattdessen blickt sie Edie streng an und sagt ihr, sie solle die Geschichte weitererzählen. Edie nickt, kommt dann aber mit geöffnetem Mund ins Stocken. »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, sagt sie. »Ich hab den Faden verloren. Senilität.«
Joe nickt. Er kennt das Gefühl, seinem eigenen Geist nicht mehr vertrauen zu können. »Wer sind Sie?«
Edie nickt dankbar. »Sie kennen meinen Namen. Früher habe ich – na ja, ich habe früher mit Ihrer Großmutter zusammengearbeitet. Wir waren Freundinnen. Ich war auch noch vieles andere. Hauptsächlich Spionin. Eine Art Polizistin. Und nun bin ich eine Revolutionärin, nehme ich an. Eine Terroristin.« Sie seufzt. »Dieses Die-Welt-Verändern ist schwieriger, als ich es mir vorgestellt habe.«
»Ich wusste gar nicht, dass Frankie irgendwelche Freunde gehabt hat«, sagt Joe.
»Stell dich nicht dumm, Joe«, murmelt Polly und küsst sein Haar, um ihre Worte wieder abzuschwächen. »Sie waren ein Liebespaar.«
Joe wirft Edie unwillkürlich einen Blick zu und sieht, wie ihre Verlegenheit sich in ein breites Grinsen verwandelt.
»Nun, ja«, sagt Edie. »Das waren wir. Und Sie, mein junges Fräulein, nehmen nicht gern ein Blatt vor den Mund, was?«
Polly zuckt mit den Schultern. »Ich glaube daran, dass man so was aussprechen muss. Das erspart spätere Missverständnisse.«
Edie muss ihr recht geben und beginnt nun damit, die gesamte Geschichte – wenn auch in stark gekürzter Form – zu erzählen, von Abel Jasmines Auftauchen in der Lady Graveley School bis zu ihrer vor Kurzem so plötzlich getroffenen Entscheidung, dass etwas unternommen werden müsse.
Joe lauscht der geheimen Geschichte des Hauses Spork – oder, wie es nun aussieht, des Hauses Fossoyeur – und spürt, wie die Dinge in seiner Schwarz-Weiß-Welt ihren Platz finden. Begreift, wo Daniels Kummer herrührte. Woraus Mathews Wahn erwuchs. So ist es also gewesen, so hat es stattgefunden.
Dass hier auch die Gründe für seine momentane Situation liegen, ist weniger wichtig. Edie ist eine Schatzkammer seiner Vergangenheit, seiner Wurzeln. Er würde sie am liebsten unter Glas stellen, sie aufziehen und sie an den Abenden zum Erklingen bringen. Ihr Leben ist so hell. Und er, Joe, ist Teil dieser Geschichte, und ihre Geschichte ist Teil seiner eigenen. Endlich ist er ausnahmsweise einmal nicht zu spät dran.
»Die Welt liegt in den Händen von Idioten«, ruft Edie aus, als wolle sie sich rechtfertigen, da sie sein Schweigen wohl für Unglauben oder Ablehnung hält. »Der Kalte Krieg ist vorbei, und was machen sie? Sie laufen in der Gegend herum und suchen sich einen neuen. Wir sind reicher als jemals zuvor. Was passiert? Wir brennen die Wälder nieder und borgen uns derartig viel Geld, dass wir plötzlich arm sind. Alles steht auf dem Kopf, und das liegt nur daran, dass die Leute nicht aufpassen. Es sollte eine perfekte Welt sein! Das war es, was wir gewollt haben. Dafür habe ich gearbeitet. Jahrzehntelang! Ich habe Frankies Maschine Jahr um Jahr versteckt. Für nichts und wieder nichts. Dafür, dass ein Haufen Scharlatane mir erzählt, dass es mir noch nie so gut gegangen sei, während sie meinen Nachbarn um seine Pension bringen!«
Sie murmelt nur noch vor sich hin. Mercer schürzt die Lippen.
»Die Bienen haben sich inzwischen über große Teile der Erde verbreitet«, sagt er. »Von Zeit zu Zeit kommt es zu Wahrheitsausbrüchen, aber ich muss sagen, ich sehe kein neues Zeitalter der Liebe und des Verständnisses anbrechen. Das Westjordanland steht in Flammen, aber ich nehme an, das war sowieso unvermeidlich. Große Teile Afrikas sehen schlimm aus. Die besondere Beziehung zwischen England und den USA ist faktisch beendet.
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