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Der goldene Schwarm - Roman

Der goldene Schwarm - Roman

Titel: Der goldene Schwarm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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ist ein kleiner gemütlicher Raum ganz hinten mit Blick auf die Dächer Sohos. Neben den Schreibtisch passen gerade so ein Einzelbett und ein Bücherregal. Nachdem er Joyce Lebewohl gesagt hatte, ging Billy dazu über, hier zu schlafen, damit die Größe des Doppelbetts ihn nicht daran erinnerte, dass sie nicht mehr da war. Joe hegt die traurige, nie ausgesprochene Überzeugung, dass Billy, wenn er allein ist, sehr oft hier schläft, dass in diesem Raum, und nur in diesem Raum, die Wahrheit seines Lebens zu finden ist. Genau wie Soho hat auch Billy Friend eine stille Seite, und nur sie offenbart die ganze Geschichte. In diesem Arbeitszimmer zieht der einsame, beinahe scholastische kleine Mann Bilanz, schaut in seinen Spiegel und fragt sich, wer ihm da entgegenblickt. Er liest Erstausgaben (das Einzige, was Billy nicht zerkleinert und wiederaufarbeitet, stiehlt oder fälscht, sind Bücher) und isst Käsesandwiches aus Vollkornbrot von einer Bäckerei aus der Nachbarschaft. Er trinkt Tee. Er trägt Jeans und einen Pullover und ruft ganz selten seine Familie in Wiltshire an, die nichts von ihm hält, um sich nach den Fortschritten zu erkundigen, die sein Neffe und seine zwei Nichten in der Schule machen. An der Universität sind sie wohl inzwischen – zumindest die Ältere.
    Joe drückt die Tür auf. Ihm verschlägt es kurz den Atem. Da steht ein gerahmtes Bild von Joyce auf dem Schreibtisch; sie lächelt das breite, herzliche Lächeln, das sie sich für Billy aufgespart und ihm gezeigt hat, wann immer es ihr möglich war. Billy, du bist ein Idiot. Du hast sie geliebt. Tust es noch immer. Ruf sie an, hol sie zurück. Sie wird kommen. Ordentlichkeit ist bloß eine Angewohnheit, Liebe zählt mehr als das.
    Vielleicht hat er ja genau das getan. Vielleicht, in extremis , ist er zu Joyce geflüchtet. Vielleicht geht es genau darum: Nicht um Mr Titwhistle und Mr Cummerbund und ihre vordergründigen Täuschungsmanöver, sondern darum, dass Billy einen kleinen Nervenzusammenbruch gehabt hat, gerade sein altes Leben wegwirft und gegen ein neues mit Joyce eintauscht – samt Hundewelpen und irgendeinem unaufgeräumten Häuschen auf dem Lande. Das wäre seltsam, aber sehr schön. Joe könnte sie besuchen fahren. Er könnte eine Freundin mitbringen, eine ernsthafte, und müsste sich keine Sorgen machen, dass Billy sie mit Annäherungsversuchen beleidigen würde (oder dass sie über die Annäherungsversuche nicht beleidigt wäre).
    Vielleicht ist das hier kein Raubüberfall gewesen, sondern ein Liebesbeweis. Ein Chaos anrichten. Die gemeine Pedanterie einfach aufgeben. Sich endlich gehen lassen.
    Da klebt etwas am Bilderrahmen. Marmelade, wie’s aussieht. Das macht es fast klar. Billy hat hier gesessen, hat Marmelade gegessen (auf Vollkornbrot mit zu viel Butter), und dabei ist ihm die Sinnlosigkeit seines urbanen Party-Lifestyles klar geworden. Er hat den letzten Bissen von Mrs Harringtons Bester Erdbeerkonfitüre runtergeschluckt, die Krümel aufgelesen und sein Leben im Namen der Liebe in die Unordnung gestürzt. Bravo!
    Die Marmelade ist geruchlos. Joe schnuppert noch einmal daran. Nein. Sehr seltsam. Sie riecht nach gar nichts. Unter den Füßen knirscht es wieder. Noch mehr Kies? Ja, aber auch … etwas Weißes, Bauchiges. Popcorn. Er stupst es mit dem Fuß an. Kein Popcorn. Hart. Ein Dübel aus Plastik, ein Bilderhaken, ein Beschlag. Er beugt sich hinunter.
    Ein Zahn.
    Er hebt ihn auf. Feucht. Kalt. Ein Zahn. Er hält ihn in der Hand. Nikotinbefleckt, aber nur ein wenig. Glänzend. Billy legt viel Wert auf seine Zahnpflege. Joe starrt ihn an. Wie kann ein vollkommen gesunder Mann aus heiterem Himmel einen Zahn verlieren?
    Der Geruch trifft ihn ganz plötzlich, als hätte er sich in den Ecken des Raumes verborgen und würde nun hervorkriechen und ihm in Nase und Mund dringen. Dumpf, metallisch, rau und widerwärtig, schnürt er ihm die Kehle zu. Der Zahn . Oh, Scheiße. Scheiße, oh, Scheiße. Der Raum dreht sich, bewegt sich auf und ab, und nun dröhnt ein gewaltiger Lärm in seinen Ohren, ein drängendes Rauschen, wie bei einem Radio zwischen den Kanälen. Er stützt sich am Schreibtisch ab, will sich aufs Bett setzen und bemerkt, kurz bevor er sich niederlässt, dass das Bett die Quelle von alledem ist, die scheußliche, unförmige Ausbeulung unter dem Laken, die er irgendwie ignoriert hat, seit er eingetreten ist: Ein riesiger, toter, ausgeweideter Schweinekadaver, nur dass es keineswegs ein Schwein ist, sondern ein

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