Der hellste Stern am Himmel
zog ein kleines Buch heraus, mit Eselsohren und sehr verschmutzt. Es war ein Kräuterlexikon mit Abbildungen und Beschreibungen. In aller Ruhe blätterte er die dünnen Seiten durch, bis er Baldrian gefunden hatte, dann verglich er es mit dem Zweig in seiner Hand. »Ha, genau wie ich gedacht hatte. Baldrian. Beruhigt, macht Hoffnung, vermindert Trauer …« Er ließ seinen Blick fragend über Grainne, Mervyn, die Stylistin und die anderen gleiten, aber er fand nicht, was er suchte. Dann wirbelte er herum und trat an den Empfangstisch hinter sich, wo Alina starr vor Staunen saß.
»Sie«, sagte er, »wie heißen Sie?«
»Alina.«
»Alina. Vielleicht können Sie das brauchen.«
Nachdem sie ihn stumm vor Überraschung angesehen hatte, nahm sie den Baldrianzweig entgegen, und plötzlichen rannen ihr dicke Tränen über das Gesicht.
»Was ist?«, fuhr Mervyn sie an.
»Mein Katze ist gestern gestorben.«
»Oje«, murmelte Grainne. Sie mochte Katzen.
Mit tränenüberströmtem, aber dankbar lächelndem Gesicht fragte Alina: »Woher wussten Sie das?«
»Ich wusste es nicht«, sagte Fionn bescheiden.
»Doch.«
Mervyn Fossil sah Fionn misstrauisch an und sagte: »Was treiben Sie da?«
»Sei still«, sagte Grainne scharf, und so war er still.
ACHTUNDFÜNFZIG TAGE …
Auf dem Weg zur Arbeit wäre Maeve beinah am Hinterrad von einem Auto erwischt worden, aber der Fahrer wich im letzten Moment aus, und sie war noch einmal davongekommen. Es erinnerte sie an eine Stelle in Der große Gatsby , wo jemand sagte, dass man ruhig ein rücksichtsloser Fahrer sein konnte, solange die anderen Autofahrer aufpassten. Natürlich war sie keine Autofahrerin, sie konnte gar nicht Auto fahren.
Vier Jahre war es her, dass sie ihren Führerschein nicht bestanden hatte, und sie fragte sich oft, ob alles anders gekommen wäre, wenn sie ihn bestanden hätte.
Vor vier Jahren …
»Und?« Mindestens zehn Leute standen erwartungsvoll um ihren Schreibtisch herum, und sie ahnte, dass es eine Glückwunschkarte, einen Kuchen, vielleicht sogar eine Flasche Schampus geben würde. Sie musste nur das magische Wort sagen, und schon würden diese Dinge hervorgezaubert.
Maeve ließ den Kopf sinken und sagte: »Ich bin durchgefallen.«
»Ohhh!«
Das hatte niemand erwartet, das nicht. Natürlich konnte jeder Schauergeschichten über Fahrprüfungen erzählen, von all den überraschenden Sachen, die passierten, und war man noch so gut vorbereitet, aber Maeve, leise und zurückhaltend, war eine von denen, die alles schafften.
David gewann als Erster seine Fassung wieder. »Jeder fällt beim ersten Mal durch«, sagte er. »Das gehört zum Ritual. Wir hätten dich auch für ziemlich absonderlich gehalten, wenn du bestanden hättest.«
»Richtig!«
»Wir haben einen Kuchen für dich besorgt«, sagte David, und Roja brachte ihn. Auf dem Kuchen stand in Zuckergussschrift mit vielen Schnörkeln: »Gratulation!«
»Natürlich ›Gratulation zum Nicht-Bestehen‹«, fügte David hinzu. »Renzo, schneidest du den Kuchen mal auf?«
»Wir haben auch eine Flasche Schampus«, sagte Tarik.
Demütig schüttelte Maeve den Kopf. »Ich habe die nettesten Kollegen der Welt.«
Und sie schenkte David ein kleines Lächeln und zeigte
ihm so, dass sie seine Bemühungen hinter dieser liebevollen Behandlung erkannte.
»Trinken wir ihn jetzt oder nach der Arbeit?«, fragte David.
»Ach, was soll’s, trinken wir ihn jetzt!«
Die Flasche wurde geöffnet, Plastikbecher wurden herumgereicht. »Auf das Nicht-Bestehen!«
Fatima gab jedem ein Stück Schokoladenkuchen auf einer Serviette und fragte: »Möchtest du uns davon erzählen?«
»Ja, sicher.« Maeve ging es schon etwas besser. Der Stich, versagt zu haben, war gemildert. »Also, der wichtigste Rat, den ich jemandem geben kann, der den Führerschein machen möchte: Übe nicht auf dem Trecker deines Vaters! Es war keine Vorbereitung auf die Wirklichkeit. Ich war so tief unten auf der Straße, es fühlte sich ganz falsch an!«
Sie brauchte nicht zu erklären, wie teuer Fahrstunden waren, das wusste jeder.
»Aber wisst ihr, was mich richtig wurmt? Mein Vater hat ein Auto.«
»Warum hat er dich dann nicht damit üben lassen?«, fragte Franz. »Hat er geglaubt, du fährst es zu Schrott?«
»Nein«, erwiderte Maeve düster. »Im Gegenteil. Er sagt, Autofahren kann jeder, aber zum Treckerfahren braucht man Geschick. Er findet mich großartig, er denkt, ich beherrsche alles. Es ist ein richtiger Fluch.«
»Dann wird er
Weitere Kostenlose Bücher