Der Kreis der Dämmerung 04 - Der unsichtbare Freund
stehende Terrassentür das Wohnzimmer betreten, als David sie aus der Dunkelheit heraus ansprach.
»Warum bist du eigentlich so abweisend zu ihm?«
Sie zuckte wie unter einem Stromschlag zusammen. »Großvater! Bist du verrückt, mir so einen Schrecken einzujagen?«
»Ich habe dich etwas gefragt, Mia.«
Sie wandte sich wieder von der Terrassentür ab und kam langsam auf ihn zu. »Er hat dir geschadet, Großpapa. Fast hätte er Belial auf deine Fährte gelockt.«
»›Vielleicht kann uns dieser Hacker ja sogar von Nutzen sein.‹ Das waren deine Worte, Mia. Aber du zeigst dich nicht gerade kooperativ gegenüber Davy.«
»Er ist ein Sonnyboy, ein Angeber. Ich mag ihn nicht.«
»Das hat sich eben aber ganz anders angehört.«
»Du hast uns belauscht?«
»Es war keine Absicht. Weißt du, was ich glaube, meine Kleine? Du hast dein Herz in einen Pferch eingesperrt, wie man es mit den Schafen hier tut, bevor sie geschoren werden. Sie können weder nach rechts noch nach links. Das Gehege, in dem du deine wollweichen Gefühle gefangen hältst, heißt Verlustangst.«
»Ich brauche keinen Psychotherapeuten, Großvater.«
»Du hast Recht. Es braucht nur einen, der dich ohne Scheuklappen liebt.« David nahm seine Enkeltochter in die Arme und sagte leise: »Nachdem du deine Eltern verloren hattest, wolltest du mit aller Macht verhindern, dass einem anderen geliebten Menschen etwas Ähnliches passiert. Zuerst hast du Großmutter beschützt, und seit Rebekka nicht mehr lebt, bin ich an der Reihe. Neue Beziehungen lässt du nicht zu, weil du ja jemanden lieben könntest, dem vielleicht auch wieder etwas Schlimmes widerfährt. Also sperrst du deine Gefühle lieber gleich weg.«
»Aber ich liebe euch doch wirklich: Mama, Papa, Großmutter und auch dich. Und in sieben Monaten…«
David spürte, wie Mias Körper bebte. Tränen rollten über ihre Wangen und sie schluchzte hemmungslos. Eine Weile strich er ihr zärtlich über das Haar. Endlich war es heraus. Sie hatten einander nur noch bis zum Jahresende. Er konnte ihre Gefühle gut verstehen.
»Du musst lernen loszulassen, mein Kleines«, sagte er schließlich leise. »Deshalb liebst du mich nicht weniger. Du bist ein eigenständiges Individuum. Ein wunderbarer Mensch. So wie Rebekka es war. Es wäre eine beispiellose Verschwendung, wenn sich nach mir niemand mehr an deinem bezaubernden Wesen erfreuen dürfte.«
Mia hob ihr Gesicht von Davids Brust. Das Sternenlicht brach sich in ihren Augen, aber auch in den Tränen, die sie vergossen hatte. »Und du wärst mir nicht böse?«
»Wie kannst du nur so etwas fragen!«, erwiderte David in gespielter Entrüstung. »Ich bestehe sogar darauf, dass du dich anderen Menschen öffnest. Davy versucht doch nur nett zu dir zu sein und…«
»Warum redest du eigentlich ständig von diesem Abenteurer?«, fiel Mia ihm ärgerlich ins Wort. »Soll ich mich etwa dem Erstbesten in die Arme werfen?«
»Das habe ich nicht gemeint, Kleines. Du solltest nur Menschen, die versuchen freundlich zu dir zu sein, nicht vor den Kopf stoßen.«
»Woher willst du wissen, dass er kein Schürzenjäger ist, der für seine Sammlung nur eine neue Trophäe sucht?«
David drückte seine Enkeltochter wieder an sich und lächelte in die Dunkelheit.
»Weil ich der Wahrheitsfinder bin.«
Der Racheengel
Davy Pearson machte an diesem Morgen einen etwas verstörten Eindruck. Schuld daran war Mia. Sie hatte ihn am Frühstückstisch angelächelt – was für einen jungen Mann an sich schon ungemein verwirrend sein konnte –, ihm anschließend einen guten Morgen gewünscht und ihn zuletzt auch noch gefragt, wie viele pancakes sie seinem Teller aufladen dürfe. Der Herr von sechzigtausend Schafen hätte beinahe die Fassung verloren.
David hob die Augenbrauen und grinste. »Frauen.« Das war alles, was er dazu zu sagen hatte.
Davy aß zwölf der kleinen runden Pfannkuchen. Er hätte sich von Mia vermutlich auch noch ein weiteres Dutzend aufdrängen lassen, aber Kathy setzte dem Gelage beherzt ein Ende. »Bist du krank, Junge? Was wird aus deinem Waschbrettbauch, wenn du so weiter frisst?«
»Wieso?«, mummelte Davy mit vollem Mund. »Wie viele pancakes habe ich denn gegessen?«
Kathy bedachte zuerst ihren Zögling, dann Mia mit einem misstrauischen Blick und rauschte schließlich mit den Resten des Frühstücks davon.
Plötzlich erklang die Kleine Nachtmusik von Wolfgang Amadeus Mozart. »Entschuldigt bitte«, sagte David kleinlaut. »Habe ganz
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