Der Rote Mond Von Kaikoura
getan. Er war nur froh gewesen, dass Lillian ihn während des Essens so sehr in Beschlag genommen hatte. Ansonsten hätte er sich wohl einigen Vorwürfen und Fragen stellen müssen.
»Nun, mein Junge, sind die Pferde bereit?«, rief Caldwell, der seine Reisetasche und seinen Schlafsack ein wenig mühsam vor sich her trug. Für Übernachtungen außerhalb seines gemütlichen Bettes schien er nicht so recht gemacht zu sein.
»Ja, das sind sie. Ich hole nur noch das restliche Gepäck.« Damit stiefelte Henare davon. Eine Tasche war noch im Gästehaus zurückgeblieben; diese schulterte er und verließ das Gebäude wieder.
»Auf ein Wort!«
Wie aus dem Nichts war der Heiler hinter ihm aufgetaucht und hatte ihn in seiner Muttersprache angesprochen.
Sein Erschrecken verbergend wandte Henare sich um und fragte: »Was gibt es?«
»Offenbar sprichst du die Sprache unserer Väter noch sehr gut. Aber für alles andere, was wir dich gelehrt haben, scheint das nicht zu gelten.«
Henare schoss das Blut in die Wangen. Er blickte sich nach seinen Begleitern um, die mittlerweile ihr Gepäck verladen hatten; dann wandte er sich wieder an den Heiler, und als er antwortete, klang er ein wenig enttäuscht.
»Ich habe dir doch erklärt, warum ich das tun musste. Du müsstest mich eigentlich verstehen, denn du bist doch auch ein Wissenschaftler.«
»Aber ich bin meinem Volk treu geblieben. Das kann man von dir offensichtlich nicht sagen.«
»Ich beherrsche meine Sprache noch immer sehr gut.«
»Aber kaum etwas an dir erinnert an einen Maori. In deinem Alter und bei deinem Ansehen, das du unerklärlicherweise noch immer hast, solltest du ein moko tragen. Und du solltest hier sein. Bei deinem Volk.«
Henare schnaufte. Beinahe dieselbe Diskussion hatte er vor einigen Jahren schon geführt. Damals waren sie im Streit auseinandergegangen, und er hatte sich über viele Jahre nicht mehr hier blicken lassen.
»Ich möchte nicht mit dir streiten«, sagte er versöhnlich, denn er spürte, dass die Augen seiner Begleiter auf ihn gerichtet waren. Wahrscheinlich fragten sich alle, was er mit dem Heiler noch zu besprechen hatte. »Du kennst meinen Standpunkt, und er hat sich in all den Jahren nicht verändert. Ich diene meinem Volk besser, wenn ich die Wissenschaft der Weißen erlerne. Eines Tages werde ich euch damit von Nutzen sein.«
»Aber wir brauchen dich jetzt!«
Henare schüttelte den Kopf. »Ihr habt viele andere Krieger, und das Dorf ist nicht in Gefahr. Seit Jahren herrscht Frieden mit den Weißen, und das will ich nutzen, um ein großer Wissenschaftler zu werden.«
Bevor Henare sich umwenden konnte, schoss die Hand des alten Medizinmannes vor und umklammerte seinen Oberarm wie eine Kralle. »Dein Vater ist ein kranker Mann! Du hast ihn gesehen. Bis zum Ende des Jahres wird er zu den Ahnen gehen.«
Schockiert sah Henare ihn an. Die ganze Zeit über hatte er seine Beherrschung wahren können, auch angesichts des Häuptlings, der ihm wirklich furchtbar schwach erschienen war. Doch als der Heiler aussprach, was er seinem Verstand zu denken verwehrte, war es, als würde ein wildes Tier sich in seinen Eingeweiden verbeißen.
»Ich weiß. Aber ich glaube nicht, dass er seine Meinung über mich geändert hat. Jedenfalls hat es für mich nicht so ausgesehen.«
»Du wirst an seinen Platz treten müssen«, entgegnete der Heiler ungerührt. »Was auch immer zwischen euch war, wird vergessen sein, wenn du dich wieder daran erinnerst, was deine Aufgabe gegenüber unserem Volk ist.«
Henare senkte den Blick. »Es gibt sicher andere, die sich mit Freuden zum neuen Häuptling wählen lassen würden.«
Der Medizinmann schüttelte den Kopf. »Du magst vielleicht deine Ahnen und deinen Vater verleugnen, weil du sein willst wie sie!« Er blickte zu den beiden weißen Männern und der jungen Frau. »Doch in deinen Adern fließt das Blut unseres Volkes. Die Weißen werden dich nie als ihresgleichen ansehen.«
»Das kümmert mich nicht«, gab Henare zurück. »Nur so kann ich Wissenschaftler werden und damit etwas für unser Volk tun. Und jetzt muss ich zurück. Vielen Dank für deine Hilfe und Gastfreundschaft.«
Er nickte dem alten Mann zu und wandte sich um.
»Es wird Krieg geben!«, schleuderte ihm der Heiler wütend hinterher. »Krieg unter denen, die Anspruch auf die Führung des Stammes erheben. Schlimmstenfalls bricht alles auseinander, und was soll dann werden? Wenn wir schwach sind, werden die Weißen uns auslöschen! Sie lauern doch
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