Der Ruf der Wellen: Roman (German Edition)
vorsichtig die schmalen Stufen auf die Rollbahn hinunter. Ihre Knie waren weich, und sie war dankbar, dass die getönte Brille ihre Augen vor der gleißenden Sonne schützte.
Ihre Eltern waren kaum zu übersehen. Sie winkten fröhlich, während Tate darauf wartete, dass der Pilot ihren Koffer aus dem Frachtraum holte.
Wie wenig sie sich verändert haben, dachte sie. Zwar zogen sich ein paar zusätzliche graue Strähnen durch das Haar ihres Vaters, aber beide standen aufrecht, schlank und gut aussehend hinter der Schranke, strahlend und Händchen haltend, während sie wie besessen winkten.
Sobald sie die beiden sah, fühlte Tate sich gleich bedeutend besser.
Worauf habe ich mich da nur wieder eingelassen, fragte sie sich. Geheimnisse, die man ihr am Telefon nicht verraten konnte. Pläne, Projekte und Abenteuer. Dieses verdammte Amulett, dieses verdammte Wrack. Diese verdammten Lassiters …
Rays Begeisterung über eine erneute Zusammenarbeit mit den Lassiters hatte ihre Entscheidung beeinflusst, direkt nach Hatteras zu fahren, ohne einen Umweg über ihre
eigene Wohnung in Charleston zu machen. Sie konnte nur hoffen, dass er auf sie gehört und die Kontaktaufnahme mit Matthew hinausgezögert hatte. Es war ihr unverständlich, dass überhaupt einer der Beteiligten die Erfahrungen jenes unglückseligen Sommers wiederholen wollte.
Jedenfalls war sie endlich angekommen, sagte sie sich, als sie nach der Schlaufe griff, um ihren Koffer hinter sich herzuziehen. Und sie würde ihren wunderbaren, aber leider etwas naiven Eltern schon Vernunft beibringen.
»Oh Liebling, es ist so schön, dich zu sehen!« Marla legte ihre Arme um Tate und drückte sie fest. »Es ist eine Ewigkeit her, fast ein Jahr.«
»Ich weiß. Ihr habt mir so gefehlt.« Lachend ließ sie ihre Bordtasche fallen, um ihren Vater zu umarmen. »Ich habe euch beide sehr vermisst. Ihr seht wunderbar aus.« Sie machte sich los und betrachtete Ray mit einem langen, abschätzenden Blick. Dann wandte sie sich an ihre Mutter. »Und die neue Frisur steht dir wirklich gut, Mom. Dein Haar ist fast so kurz wie meins früher.«
»Gefällt es dir?« Stolz berührte Marla ihren sportlichen Kurzhaarschnitt.
»Perfekt. Und absolut modern.« Und so jugendlich, dass Tate sich fragte, wie diese hübsche Frau mit dem glatten Gesicht ihre Mutter sein konnte.
»Ich arbeite jetzt viel im Garten. Die langen Haare waren mir ständig im Weg. Liebling, du bist so dünn! Du arbeitest zu viel.« Marla wandte sich an ihren Mann. »Ray, habe ich nicht gesagt, dass sie zu viel arbeitet?«
»Das hast du«, stimmte er zu und verdrehte die Augen. »Wieder und wieder. Wie war die Reise?«
»Endlos.« Tate ließ die Schultern kreisen, während sie durch den kleinen Terminal zu Rays Jeep gingen. Sie unterdrückte ein Gähnen und schüttelte den Kopf. »Hauptsache, ich bin hier.«
»Und darüber sind wir froh.« Ray verstaute ihr Gepäck
hinten im Jeep. »Wir wollten, dass du auf diese Fahrt mitkommst, Tate, aber ich habe ein schlechtes Gewissen, weil du bei deiner Expedition kündigen musstest. Ich weiß, wie wichtig dir die Arbeit war.«
»Nicht annähernd so wichtig, wie ich gedacht hatte.« Sie kletterte auf die Ladefläche des Jeeps und ließ den Kopf zurücksinken. Das Thema VanDyke und seine Einmischung wollte sie nicht anschneiden, zumindest noch nicht. »Aber ich bin froh, dass ich dabei sein durfte. Ich bewundere meine Kollegen und würde mit jedem von ihnen jederzeit gern noch einmal arbeiten. Der ganze Job war faszinierend, aber auch sehr unpersönlich. Wenn die Funde endlich bei mir ankamen, waren sie bereits durch so viele Hände gegangen, dass sie mir fast wie Stücke aus einem Schaukasten vorkamen.« Erschöpft streckte sie sich. »Versteht ihr das?«
»Und wie.« Auf die eindringlichen Warnungen seiner Frau hin unterdrückte Ray den Impuls, ihr gleich von seinen Plänen zu berichten. Gib ihr ein wenig Zeit, hatte Marla ihn gebeten. Geh es langsam an.
»Jetzt bist du zu Hause«, wiederholte Marla. »Als Erstes bekommst du eine warme Mahlzeit, und dann legst du dich aufs Ohr.«
»Dagegen ist nichts einzuwenden. Und sobald ich wieder einen klaren Gedanken fassen kann, musst du mir alles von der Isabella erzählen.«
»Wenn du meine Recherchen gelesen hast«, versprach Ray munter, während sie durch die Ortschaft Buxton fuhren, »wirst du verstehen, warum ich es kaum erwarten kann, endlich loszulegen.« Bevor er fortfahren konnte, bemerkte er den beschwörenden Blick
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