Der Schlaf und der Tod: Thriller (German Edition)
sie zusteuerte. Es war fast dunkel. Überall hohe Bäume und Büsche. Dort musste es geschehen. Eine bessere Chance bekam er nicht. Wenn sie zwischen den Bäumen war, wollte er sie umstoßen, hinter einen Busch ziehen und ihr den Mund zuhalten, während er ihr die Spritze gab. Sie war dünn, viel Gegenwehr würde sie nicht leisten. Wenn sie dann schlief, wollte er sie irgendwo im Dickicht verstecken, zurückgehen und das Auto holen und … Sie blieb stehen. Unmittelbar vor ihm, sodass er an ihr vorbeigehen musste. Er hatte keine andere Wahl, wollte er sich nicht verdächtig machen. Sie ging auf eine Pizzeria zu. Er wurde langsamer. Wartete, bis er sich ganz sicher war, dass sie drinnen war. Dann drehte er sich um und ging zurück. Durch die offene Tür hörte er, dass sie zwei Pizzen bestellte. Zwei. Sie war also nicht allein zu Hause. Und auf dem Rückweg war zu viel Licht. Er musste warten, dachte er. Sie beobachten. Er musste warten, bis sie allein war. Oder sie irgendwie aus dem Haus locken. Denn es musste bald sein. Noch in dieser Nacht. Länger warten konnte er nicht. Die Polizei würde ihn bald auf dem Kieker haben. Silke konnte nicht warten.
3.
Islands Brygge, 22.45 Uhr
Hunger war nicht das richtige Wort. Es war etwas anderes, was Hannah jetzt fühlte. Etwas Stärkeres, Existenzielles, eine fast erschreckende Lust zu essen, ihren Körper im Laufe kürzester Zeit mit großen Mengen Nahrung zu füllen. Die gleichen Gelüste hatte sie gehabt, als Johannes unterwegs gewesen war. Das war eine der Sachen, an die sie sich erinnerte. Der Hunger zu Beginn der Schwangerschaft, bis dieses Gefühl plötzlich wieder vorbei gewesen war. Davon abgesehen waren die Erinnerungen an ihre erste Schwangerschaft fast ausgelöscht. Der Selbstmord überla gerte alles.
»Mit Chili und Knoblauch?«, fragte der Mann mit den schwarzen Haaren hinter dem Tresen. »Auf beide Pizzen?«
»Ja, bitte«, sagte sie.
Hannah stellte sich ans Fenster. Die Wärme des Steinofens machte die Scheiben ein bisschen beschlagen. Ein Mann sah hinein, starrte er sie an? Dann war er wieder weg. Italienische Stimmen hinter dem Tresen. Es klang nach einem Streit. Einer von ihnen rief immer wieder »no«. Der Schweiß rann an ihm herab. Der Prozess, dachte sie. Es war Zeit, die Verhandlung wieder aufzunehmen. Sie sah in das Buch, Phaidon, und hörte die Stimme in ihrem Kopf:
Verehrtes Gericht, verehrte Geschworene. Ein neuer Zeuge wurde aufgerufen. Der Vater der angeklagten Kinder. Aber er kann nicht selbst kommen, sondern verweist stattdessen auf das Buch, das ich in den Händen halte. Dieses Buch wird den Beweis liefern, der zum Freispruch der Angeklagten führen muss. Oder besser gesagt die Beweise, es sind nämlich vier. Vier Argumente für die Existenz der Seele. Und dafür, dass sie unsterblich ist – auf einer endlosen Reise. Dass der Körper bloß die Hülle ist, der die unsterbliche Seele beheimatet. Aber wieso ist das eine Verteidigung?, frage ich. Und gebe mir selbst die Antwort: weil es keinen Sinn macht, etwas totzuschlagen, was nicht sterben kann. Weil diese beiden Seelen doch nur andere Körper finden und damit in jedem Fall auf die Welt kommen würden. Nicht wir sind es, die wir uns für Kinder entscheiden, die Kinder entscheiden sich für uns. Und man kann nur etwas ablehnen, das man auch selbst gewählt hat. Machen meine Worte Sinn? Wer könnte dagegen Einspruch erheben? Dieses Buch, das ich in meinen Händen halte, ist der Beweis. Der Nachweis für das ewige Leben der Seele. Und der Beweis dafür, dass die Kinder leben sollen. Leben. Kopfschütteln aufseiten des Anklägers, verbreitetes Murmeln im Saal. Ein mehrere Tausend Jahre altes Buch?, ruft einer der Zuhörer fragend. Was soll denn das beweisen?
»Zwei Minuten, dann sind sie so weit.«
Hannah hob den Kopf.
»Die Pizzen, einen Augenblick noch.«
»Danke.«
Der Hunger kam wieder. Ein paar Minuten lang hatte sie ihn wirklich vergessen. Der Prozess hatte ihn verdrängt. Sie schloss die Augen und wurde auf den rauen Rand einer Seite aufmerksam. Sie schlug sie wieder auf. Wo war das gewesen?
»Guten Appetit«, sagte der Italiener und stellte die Pizzen vor ihr auf den Tresen.
»Danke.«
Da . Die raue Kante. Eine Seite war aus dem Buch gerissen worden. Warum?, fragte sie sich. Weil auf dieser Seite der entscheidende Beweis war, ertönte es in ihrem Kopf. Die Entscheidung, ob ihre Kinder leben oder sterben sollten.
4.
Amager, 23.05 Uhr
»Darf ich mich neben dich legen?«
Es
Weitere Kostenlose Bücher