Der Schlaf und der Tod: Thriller (German Edition)
war.
»Bentzon?« Sommersted sprach leiser als sonst.
»Ja.«
»Sie heißt Dicte van Hauen. Sie ist Solotänzerin im Königlichen Ballett.«
Dicte . Ja, das passte zu ihr. Fein und zerbrechlich. Niels wieder holte den Namen, als könnte er sie so zurückholen: »Dicte van Hauen.«
Theodor blickte auf. »Die Balletttänzerin?«
Niels nickte.
Theodors Telefon klingelte in seinem Büro: »Ich gehe eben dran«, flüsterte er und ging. Sommersted brummte ins Telefon: »Bentzon?«
»Ja.«
»Sie ist über sechsunddreißig Stunden nicht gesehen worden. Ist nicht zur Arbeit gekommen …« Sommersted kam ins Stocken. Er klang betroffen. Niels war verwundert. Stimmen hinter ihm. Vielleicht von einem Fernseher?
Niels musterte Dicte. Ihre feinen Gesichtszüge waren von der Angst entstellt, dem Schmerz, den sie während dieses Tages erdul den hatte müssen, von dem Sommersted gesprochen hatte.
»Hören Sie, Niels«, sagte Sommersted. Er hatte nie zuvor seinen Vornamen benutzt. »Sie fahren zu ihren Eltern. Janni schickt Ihnen die Adresse.«
»Ich soll … Können wir nicht …«
Der Chef unterbrach ihn: »Sie waren der Letzte, der sie lebend gesehen hat. Ich weiß, dass das ein schrecklicher Auftrag ist, aber …«
»Ist in Ordnung.«
»Und wir lassen sie obduzieren. Und treffen Sie mich anschließend am Königlichen Theater. Sagen wir, in einer Stunde?« Sommersted legte auf.
Niels blieb stehen. Allein mit Dicte van Hauens entseeltem Körper. Allein mit dem kryptischen Bescheid auf ihrer Hand. Bank anrufen . NMSB . Mon . 16 .
Heute war Montag. Hatte sie eine Verabredung? Mit wem? Und hatte sie deshalb sterben müssen? Um nicht zu dieser Verabredung kommen zu können? Niels sah auf seine Uhr. Es war kurz nach elf. Noch fünf Stunden bis 16 Uhr. Fünf Stunden, um herauszufinden, wen sie treffen wollte. Und wo.
16.
Bispebjerg Klinik – Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie, 11.15 Uhr
Das Schweigen ist meine Waffe. Worte haben für mich ihre Bedeutung verloren. Sie existieren nicht mehr. Ich kann sie nicht finden. Stattdessen höre ich zu. Den Stimmen draußen auf dem Flur. Den vorbeigehenden Ärzten. Den Schritten auf dem Linoleum, dem Flüstern. Den anderen Patienten und den Psychiatern, die manchmal ihren Kopf zu mir hereinstecken und etwas sagen. Ich lausche ihren Stimmen, wie ich damals der Stimme des Schuldigen gelauscht habe. Ich habe viel darüber gelesen. Weiß, dass sie sich aus Kehlkopf, Stimmbändern und Atemapparat zusammensetzt. Und dass die Atmung angewiesen ist auf die Rumpfmuskulatur, das Zwerchfell und die Lungen. Ich weiß exakt, was geschieht, wenn wir sprechen: wie die Luft aus unseren Lungen gepresst wird und die Stimmlippen in Schwingung versetzt. Die Vibration geht dann weiter in den Vokaltrakt, bis sie schließlich als Ton aus dem Mund entweicht. Das ist wie eine Reise. Jedes einzelne Wort, das wir aussprechen, jeder Laut, den wir von uns geben, hat eine lange Reise hinter sich, bevor er das Ohr des Empfängers erreicht; eine Reise, die oft vergebens ist, weil die Worte doch nur wie Regentropfen auf der Windschutzscheibe eines Autos abprallen. Aber seine nicht. Nicht die Worte des Schuldigen. Seine Stimme ist so nachdrücklich zu mir durchgedrungen, dass sie seit bald acht Jahren in mir widerhallt. Ich kenne sie bis ins kleinste Detail; die etwas stimmhaften »s«. Die Pausen zwischen seinen Sätzen sind geringfügig länger als bei anderen Menschen, sodass man die Punkte fast hören konnte. Eine lebendige, dramatische Stimme. Maskulin. Selbstbewusst. Viel leicht hat er mal ein Stimmtraining gemacht?
***
Aber damals dachte ich nicht daran. Im Herbst des Jahres 2004. Es hätte auch vor zehn Minuten oder vor zwanzig Jahren sein können. Damals machte ich immer noch einen Mittagsschlaf, wenn ich vom Kindergarten zurück war. Meinen Freunden habe ich das nie verraten, denn ich fand das ein bisschen peinlich, obwohl ich wusste, dass ich das brauchte. Nur eine Stunde zwischen drei und vier.
Während dieser Zeit hörte ich zum ersten Mal das leise Klicken und wusste gleich, dass Mama mein Zimmer abgeschlossen hatte. Ich lag im Bett, und ein unangenehmes Gefühl keimte in mir auf, während ich die leisen Stimmen aus dem Schlafzimmer hörte. Erst später habe ich verstanden, dass das Angst war. Der Schuldige sagte etwas, Mutter lachte und sagte Worte, die ich nicht mochte. Und ich hörte, wenn er wieder ging, hörte, wie sich seine Stimme verabschiedete, bis sie am nächsten Tag wieder da
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