Der Schwarze Mandarin
Haupt der Familie, und sein Wort ist in seinem Haus Gesetz. So ist es Tradition, und was unsere Eltern und Großeltern und alle Ahnen als Fundament des Zusammenlebens heiligten, ist auch für uns gut. Sag nicht, wir sind moderne Menschen mit gleichen Rechten – das ist ein Schlagwort, das du falsch verstehst. Es muß Ordnung sein auf der Welt im Großen und in der Familie im Kleinen. Ohne eine Mauer hält kein Dach. Meine Liebe zu dir ist groß, Liyun, aber ich werde nie der Sklave deiner Launen sein.
Zhi atmete tief auf, straffte sich und hob sein Glas.
»Mögen Sie immer gesund bleiben!« sagte er und blickte dabei Rathenow an. »Möge Glück, Freude, Erfolg immer an Ihrer Seite stehen. Ein langes Leben wünsche ich Ihnen und die Erfüllung Ihrer Träume!«
Liyun stand von ihrem Stuhl auf. »Stehen Sie auch auf!« sagte sie zu Rathenow. »Das war ein Trinkspruch. Bei uns stehen danach alle auf und heben ihr Glas.«
Rathenow erhob sich und hob sein Glas. »Was hat er gesagt?«
»Das übersetze ich Ihnen später.« Sie stießen die Gläser aneinander und tranken einen Schluck. »Jetzt müssen Sie einen Spruch sagen.«
»Ich? Warum?«
»Das ist bei uns so üblich. Eine alte Sitte. Man antwortet auf eine Ehrung.«
»Er hat mich geehrt? Na, dann nur zu.« Er sah Zhi an. Wie nur ein Boxer seinen Gegner vor der letzten Runde ansieht, so blickte Rathenow in Zhis Augen. »Ich erhebe mein Glas mit tiefer Freude, Gast in Ihrem schönen Land zu sein. Ich bewundere Schönheit, wo immer ich ihr begegne, und nehme sie mit in meinem Herzen. Es gibt Schönheit, bei der die Worte versagen. Hier in China habe ich eine gesehen, die nie mehr aus meinem Gedächtnis verschwinden wird. Zum Wohle!«
Liyun übersetzte den Spruch, nur den letzten Satz ließ sie weg. Rathenow, dem das natürlich nicht aufgefallen war, wartete auf die Wirkung seiner Worte. Jetzt muß er reagieren, dachte er. Das muß er verstehen, wenn er nicht Stroh im Kopf hat.
Aber Zhi, der in Liyuns Übersetzung nur das Lob auf China hörte, hielt Rathenow begeistert sein Glas hin und trank es dann in einem Zug leer.
Rathenow war verblüfft. Ein verdammt harter Bursche. Ich hätte bestimmt anders reagiert.
Ein Verdacht kam plötzlich in ihm auf. Als sie sich wieder gesetzt hatten, wandte er sich an Liyun.
»Haben Sie alles übersetzt?«
»Das haben Sie doch gehört.«
»Alles?«
»Natürlich nicht wörtlich, das geht nicht. Aber sinngemäß – Sie haben gut gesprochen.«
»Finden Sie? War es nicht zu persönlich?«
»Nein. Sie haben China gelobt und seine Schönheit, so wie Sie sie sehen.«
Rathenow gab es auf. Hat auch sie nicht verstanden, was ich damit ausdrücken wollte? War das noch nicht deutlich genug? Ich kann doch nicht zu ihr sagen: Liyun, seit drei Tagen denke ich nur an dich, sehe ich nur noch dich.
Zhi riß ihn aus seinen Gedanken. »Tanzen wir?« fragte er. »Das ist ein toller Fox.«
»Bitte …« Rathenow blieb sitzen. Zhi schüttelte den Kopf.
»Sie zuerst. Dem Gast gebührt die Ehre des ersten Tanzes.«
Rathenow erhob sich und verbeugte sich vor Liyun. Du niederträchtiger Kerl, dachte er, als sich Liyun bei ihm einhakte und er sie zur Tanzfläche führte. Das ist dir eine Freude, was? Liyun in meinem Arm zu sehen und zu wissen: Sie gehört mir. Fühlst du dich so sicher? Hast du keine Angst, nur ein bißchen Angst? Sieh uns zu! Ich werde jetzt einen Tanz hinlegen, daß sich dir die Haare sträuben.
Er umfaßte Liyuns schlanken Körper. Zum erstenmal fühlte er sie, fühlte ihre Nähe, spürte den Druck ihrer Hände auf seinem Rücken und in seiner Hand, und als er eine unverhoffte Drehung machte, fiel sie gegen ihn, und er genoß den Druck ihrer Brust und ihrer Hüfte. Seine Kehle wurde ihm eng, sein Mund trocknete aus, und er dachte: Hör auf! Geh zurück an deinen Tisch! Die Knie zittern dir, und du machst dich lächerlich! Du Narr! Du Narr! Du Narr!
Aber er tanzte weiter. Während die vielen jungen Paare um sie herum den wilden Tanzstil der modernen Zeit bevorzugten, sich umeinander drehten und die Körper zuckten, tanzten Liyun und Rathenow eng umschlungen und fast auf der Stelle. Was die Band spielte, welchen Rhythmus und welchen Tanz, nahmen sie nicht wahr; ihre Körper bewegten sich nach einem eigenen Gesetz, nach einer Melodie, die nur sie hörten.
Eine nüchterne Bemerkung Liyuns holte Rathenow auf die Erde zurück.
»Sie tanzen gut«, sagte sie. »So ganz anders als wir. Aber es ist schön – man fühlt sich so
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