Der Sohn des Haeuptlings
Hemdverschluß ist nicht in Ordnung. Sollten Sie vielleicht ein besonders aufwendiges Amulett tragen oder dergleichen?“
Tesu verstand den eleganten Herrn nicht, bis ihm Mrs. Webster ein wenig ungern übersetzte, daß er für die Anproben vielleicht besser sein Totem abnehmen sollte.
Tesu brauchte eine Weile, bis er begriffen hatte, dann schlug er kurz die Augen nieder. Er war so verlegen, wie Mrs. Webster ihn bisher noch nicht erlebt hatte. Und tatsächlich schämte er sich vor dem Geschäftsführer und dem Personal, das um ihn herumstand und ihn anstarrte. Vermutlich hielten sie ihn für einen abergläubischen Wilden, der wie ein Medizinmann immer irgendeinen Zauber mit sich herumschleppte.
„Entschuldige, Tesu —“, sagte Mrs. Webster leise.
„Ich wollte keinesfalls taktlos sein“, beeilte sich der Geschäftsführer zu sagen.
„An mein Totem hab’ ich wirklich gar nicht gedacht“, meinte Tesu, der sich jetzt wieder gefaßt hatte. Er lächelte sogar, als er in der Umkleidekabine verschwand. „Ich stecke es in die Hosentasche und lasse es bei der nächsten Anprobe zu Hause“, hörte man weiter seine Stimme hinter dem Vorhang, und sie klang beinahe belustigt.
Eine der neuen Garnituren behielt Tesu gleich an. Sein indianisches Lederkostüm würde noch heute mit den Einkäufen zusammen vom Warenhaus in die weiße Villa geliefert werden.
Tesu kam sich beinahe so vor wie ein Pferd, das eingeritten werden soll und dem man zum erstenmal einen Sattel aufgezwungen hat. Alles beengte ihn, war neu und ungewohnt. Vor allem drückten ihn der Kragen und die Schuhe. Er bewegte sich deshalb ein wenig steif, sehr aufrecht und vorsichtig, was allerdings verschieden ausgelegt werden konnte.
Jedenfalls flüsterte eine der superblonden Verkäuferinnen ihrer Kollegin zu: „Guck mal, sein Gang, so was ist einfach angeboren. Bestimmt ist er ein junger Ölscheich oder ein angehender Maharadschah.“
Anschließend mußte sich Tesu für das Paßamt fotografieren lassen, und dann wartete auch schon Herr Lang-hans in der Villa mit neuen deutschen Vokabeln auf die beiden.
„Das läßt sich auch beim Spazierengehen erledigen“, schlug Mrs. Webster vor. „Ich will nämlich, daß Tesu so nebenbei die Stadt kennenlernt. Sonst fliegen wir ab, und er hat von Chicago so gut wie nichts gesehen.“
So kam es, daß sie später durch den Grant Park schlenderten, in der Mitte der semmelblonde, junge Mann mit den winzigen Sommersprossen um die Nase, rechts von ihm Mrs. Webster und links neben ihm der Sohn des Apachenhäuptlings Kuguah.
„Ich möchte bitte mein Frühstück“, sprach Herr Langhans ganz langsam vor, als sie so ziemlich in der Mitte des Parks den großen Buckingham-Springbrunnen erreicht hatten. Es war inzwischen dunkel geworden, und seine bunten Wasserspiele wurden von Scheinwerfern angestrahlt.
„Ich möchte bitte mein Frühstück“, wiederholte Mrs. Webster langsam Wort für Wort.
„Frühstück“, korrigierte der junge Mann aus Deutschland. „Frühstück—“
„Ich möchte bitte mein Frühstück“, sagte Tesu fehlerfrei, wenn auch mit einem deutlichen Akzent.
„Und jetzt reicht es gerade noch für den Sears Tower“, meinte Mrs. Webster, als sie eine halbe Stunde später auf ihre Armbanduhr schaute.
Der Blick von der dortigen Aussichtsplatte über die Stadt in die kerzengeraden Straßen mit den vielen Auto-lichtern und an den beleuchteten Betontürmen vorbei bis zum See war wirklich großartig.
„Übrigens sind die Wolkenkratzer in Chicago erfunden und hier auch zum erstenmal gebaut worden“, erklärte Mrs. Webster nicht ganz ohne Stolz.
„Das ist mir neu“, gab der junge Herr Langhans in einwandfreiem Englisch zu und fuhr dann in Deutsch fort: „Heute nachmittag scheint die Sonne.“
„Nachmittag ist afternoon?“ fragte Mrs. Webster.
„Sehr richtig“, erwiderte der junge Mann mit den Sommersprossen. „Und sun ist Sonne. Probieren wir’s also mal.“
„Heute nachmittag -“, Mrs. Webster überlegte und fragte dann: „Was macht die Sonne, my dear god?“
„Sie scheint “, grinste der junge Mann namens Langhans
Am Abend hörte Tesu zum erstenmal in seinem Leben ein Konzert in der Orchestra Hall, und am nächsten Vormittag schleppte ihn Mrs. Webster in das achteckige Marmorgebäude des Shedd-Aquariums.
„Man könnte einen vollen Tag in ihm herumspazieren. Es ist das größte Aquarium der Welt“, erklärte sie. „Aber wir wollen uns nur das Wichtigste ansehen, damit du
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