Der Sonntagsmann
für sich selbst einfach abzugeben. Es hat mich zugleich abgestoßen und angezogen.«
Die Weinflaschen waren geleert, und es war schon nach zwei, als Nadia mit dem Taxi nach Hause fuhr. Die Decke schaukelte, als sich Elina ins Bett legte. Sie sank in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
24. KAPITEL
Zuerst sahen sie den roten Kirchturm. Er ragte vor dem gewaltigen Berg wie ein spitzer Hut auf. Neben der Kirche lag der Friedhof. Häuser standen im Tal verstreut. Sie sahen aus wie Spielzeughäuser, alles wirkte durch den kolossalen Berg kleiner. Robert parkte auf dem Kiesplatz vor der Kirche.
»Ist das alles?«, fragte er. »Ist das Flakstad?«
Kari antwortete nicht. Sie betrachtete den Friedhof. »Ob mein Vater da wohl begraben liegt?«, überlegte sie. Robert nahm ihre Hand. Sie entzog sie ihm nicht, sondern erwiderte seinen Händedruck. Gemeinsam öffneten sie ein kleines Tor und betraten den Gottesacker. Die Grabsteine standen in geraden Reihen. In Flakstad herrschte Ordnung bei den Toten.
»Wie hieß er denn?«, fragte Robert.
»Reidar Solbakken«, antwortete Kari.
Der Grabstein stand am Ende einer Reihe. Kari entdeckte ihn zuerst. Er war unscheinbar und grau und schien direkt aus dem Felsen gehauen zu sein.
»Geboren 1925, gestorben 1984«, sagte Robert. »Wie alt ist er geworden? Mathe war auf der Penne nicht gerade mein bestes Fach.«
»Neunundfünfzig«, sagte Kari mit so leiser Stimme, dass Robert sie kaum verstehen konnte. » Im Auge des Glaubens funkelt das Licht von den Ufern der Ewigkeit. « Sie las den Vers, der unter dem Namen in den Stein gehauen war, leise für sich. »Manchmal meine ich, mich an ihn zu erinnern«, sagte sie dann. »Wie er durch die Tür ins Haus kommt. Er war groß und sprach sehr laut. Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein.«
Kari ließ ihren Blick schweifen. »Da«, sagte sie und deutete. »Dieses Haus.« Auf einer Anhöhe lag ein weißes Haus.
»Da haben wir gewohnt.«
In der Ferne bellte ein Hund. Schweigend schauten Kari und Robert zu dem Haus hinüber. »Sollen wir hingehen?«, fragte Robert.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Kari. »Ich weiß nicht, wer jetzt dort wohnt.« Robert fiel auf, dass sie leicht zitterte, als fröstelte sie.
»War es dort …?« Er unterbrach sich und wusste nicht, ob er es aussprechen sollte. »Hat man dich dort gefunden?«
Kari antwortete nicht. »Komm«, meinte Robert. »Wir klopfen mal an. Deswegen sind wir schließlich hier. Irgendwo müssen wir anfangen.« Er nahm wieder ihre Hand und zog sie vorsichtig mit sich.
Der Hund bellte lauter, als sie näher kamen. Sie gingen langsam auf die Treppenstufen zu, die zur Haustür hochführten. Dann wurde die Tür geöffnet. Ein Mann erschien. Er war klein, etwa um die siebzig. Sein Gesicht war zerfurcht wie die Felsen, seine Augen waren schmal. »Sucht ihr jemanden?«, fragt er. Er klang weder freundlich noch unfreundlich.
»Ich habe früher hier gewohnt«, antwortete Kari. »Ich dachte …«
Robert sah Kari erstaunt an. Ohne es offenbar selbst zu merken hatte sie begonnen, Norwegisch zu sprechen. »Ich dachte …«, sagte sie und verstummte abrupt.
Der Mann in der Tür schwieg lange. »Wer bist du?«, fragte er schließlich.
»Kari Solbakken.«
Das Gesicht des Mannes veränderte sich, irgendetwas passierte mit seinen Gesichtszügen. Sie spannten sich, als würde in seinem Nacken eine Schraube angezogen.
»Du bist also Reidars Tochter?«
Kari nickte.
»Und was willst du hier?«
»Ich weiß es nicht genau«, entgegnete Kari. »Ich will mehr über mich erfahren und darüber, was damals passiert ist.«
»Du hast auf der Treppe gelegen. Genau hier.« Er deutete.
»Dann haben sie sich um dich gekümmert. Mehr weiß ich nicht.«
»Darf ich eine Frage stellen?«, sagte Robert. »Haben Sie Karis Eltern gekannt?«
»Natürlich habe ich Berit und Reidar gekannt. Ich war mit Reidars Cousine verheiratet. Aber ich weiß nichts. Jetzt muss ich aufhören, ich hab zu tun.«
»Wer waren denn ihre richtigen Eltern?«, fragte Robert lauter, als der Mann schon wieder im Begriff war, die Tür zu schließen.
»Das weiß niemand«, antwortete dieser, und die Tür fiel ins Schloss.
Kari und Robert blieben auf dem Hof zurück. Der Hund hatte aufgehört zu bellen. Kari ergriff Roberts Arm und zog ihn fort.
Nur ein paar hundert Meter von der Kirche entfernt bei der schmalen Landstraße schnitt ein Fjordarm ins Land. Das Ufer war auf einem Abschnitt sandig, im Sommer vermutlich ein
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