Der Tod des Maerchenprinzen
er ihn lange nicht gesehen hatte. «Und dann wird man natürlich gleich zum Saufen eingeladen.» Und als er Sonntag abend wieder nach Hamburg kam und in der Kneipe war, da hat auch dauernd einer einen ausgegeben. Und so ist er das Wochenende aus dem Saufen nicht rausgekommen.
Uschi sagt: «Wenn ich jemanden lange nicht gesehen hab, dann besauf ich mich doch nicht mit dem. Dann will ich doch was von dem haben!»
Ja, da hat sie recht. Das war mir gar nicht aufgefallen. Arne besucht jemanden, den er lange nicht gesehen hat, und dann wird er «natürlich» zum Saufen eingeladen.
Ich trete ein. Der alte Mann setzt Teewasser auf. Ich setze mich auf einen Stuhl. Stütze meine Ellbogen auf den Tisch. Zwischen vertrocknete Käseecken und harte Brotknüste. Eine halb volle Whiskyflasche und ein paar schmutzige Gläser mit angetrockneten Whiskyresten. Der alte Mann tut das Teesieb in die Kanne, schüttet Teeblätter hinein. Mit ganz selbstverständlichen Handgriffen macht er das. Als wenn er sein ganzes Leben nichts anderes getan hat. Gießt das kochende Wasser über den Tee. Stellt mir eine Tasse hin und bringt die dampfende Teekanne an den Tisch. Eine Fahne von Schnaps und Schweiß, als er mir näher kommt. Ich mag gar keinen Tee im Moment. Will mich nur an der Tasse festhalten können. Die Wärme der Teetasse in meinen kalten Fingern spüren. Ich nehme keinen Zucker. Keine Milch.
Der alte Mann setzt sich mir gegenüber an den Tisch. Schlürft aus seiner Tasse. Seine ehemals starken Hände zittern nur unmerklich. Ich sehe in sein Gesicht. Tief eingefallene Wangen. Welke Haut. Einige Tage alte Bartstoppeln. Unter dem Tisch hat er seine Füße in meine Richtung ausgestreckt. Ich rieche seinen Fußschweiß. Als er die Teetasse zum Mund führt, sehe ich die schwarzen Ränder unter seinen Fingernägeln. Seine leicht angegrauten Haare, die strähnig und fettig auf den Hemdkragen fallen.
Ich höre kaum, was er mir erzählt. Es sagt ja auch so gar nichts, was er mir erzählt. Ihn anzusehen, sagt so viel mehr. Ich sehe einen alten Mann mit etwas grauen Haaren, unrasiert und ungewaschen, rieche, daß er nach Säufer riecht. Höre, daß er mir irgend etwas erzählen will, das den Eindruck macht, als sei alles in Ordnung. Sehe die halb volle Whiskyflasche.
Ich lasse meine Teetasse los. Bedecke mein Gesicht mit meinen Händen und weine. Arne, sag, daß du es nicht bist. Du bist es nicht, nein. Ich muß lange weinen. Schluchze laut. Warum konnte ich dir nicht helfen, als wir beide jünger waren? Warum mußt du mit vierzig Jahren so ein armer alter Mann sein? Ich weine. Weine lange.
Ob er versteht, warum ich weinen muß, wenn ich ihn ansehe? Auch wenn er es nicht versteht. Er wird etwas spüren. Spüren, daß ich mit meinem Leben etwas anfangen konnte. Daß ich trotz aller Schwierigkeiten vielleicht doch so etwas wie ein Mensch unter Menschen geworden bin. Und daß er allein ist. Entsetzlich allein. Er tut mir leid. Entsetzlich leid. Es tut mir so weh. So weh.
Aber auch dadurch, daß ich mit ihm leide, wird sein Leid nicht geringer. Wenn ich ihm doch durch meinen Schmerz nur etwas, nur etwas abnehmen könnte. Aber irgendwann werde ich diesen Raum verlassen und ihn wieder allein lassen. Allein. Allein. Arne. Sag, daß du es nicht bist!
Langsam senke ich die Hände vor meinem Gesicht. Nehme ihn durch das Meer in meinen Augen wieder verschwommen wahr. Den alten Mann. Den alten Mann, dessen eisgraue Konturen sich vor der fleckigen Wand hinter ihm unwirklich und gespenstisch abheben. Auf dem Herd hinter ihm dampft immer noch Wasser im Kessel. Die Luft über seinem Kopf flimmert von dem aufsteigenden Wasserdampf. Die einzige Bewegung im Raum.
Ist das mein Märchenprinz gewesen? Mein Märchenprinz, der einst mit seiner jugendlichen Schönheit auf grüner Au mein Herz erflammen ließ? Arne. Sag, daß du es nicht bist.
Aber dann sehe ich in seine Augen und erschrecke. Er ist es. Ich sehe in seine Augen und bekomme Angst. Schreckliche Angst. Seine Augen, in denen ich ganz entfernt noch die Schönheit vergangener Tage erkenne. Angst. Angst. Angst. Weil ich nicht weiß, ob ich wirklich nur die Augen sehe, denen ich jetzt gegenübersitze. Aus denen der Teufel immer noch nicht ganz gewichen ist, obwohl sie kraftloser geworden sind. Angst, weil ich nicht weiß, ob in meinem Kopf vielleicht alles durcheinandergeht. Die leuchtenden Augen des Märchenprinzen sich dazwischenschieben, so daß ich den Mann mir gegenüber gar nicht mehr erkennen
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