Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Todesstoss

Der Todesstoss

Titel: Der Todesstoss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
Vom Netzwerk:
umgehen«,
antwortete Thobias mit belegter Stimme. »Aber ich dachte, ich
hätte es verlernt. Ich hatte nur Glück.«
»Wie mir scheint, hatten wir das alle«, sagte Abu Dun. »Aber
wie kann das sein? Der Mann war doch tot. Das … das ist
Zauberei!«
Er verstellte sich außerordentlich gut, fand Andrej. Das
Zittern in seiner Stimme hätte sogar ihn überzeugt.
»So etwas wie Zauberei gibt es nicht«, antwortete Thobias.
Auch seine Stimme klang erschüttert. Er starrte den zum
zweiten Mal Gestorbenen aus schreck-geweiteten Augen an,
dann beugte er sich über das andere offene Grab. Sorgsam
tastete er nach dem Puls des Toten, hob seine Augenlider und
tat noch einige andere Dinge, die Andrej nicht genau begriff.
Schließlich richtete er sich auf und sah zuerst Abu Dun und
dann Andrej an.
»Es beginnt wieder«, murmelte er.
»Was beginnt wieder?«, fragte Abu Dun.
Statt zu antworten, bückte sich Thobias nach der Schaufel, die
Andrej fallen gelassen hatte, und ging zu dem benachbarten
frischen Grab.
»Helft mir!«
Andrej und Abu Dun tauschten einen verwunderten Blick,
während Thobias bereits wie von Sinnen zu graben begann.
Auch zu dritt benötigten sie über eine Stunde, um die Gräber
zu öffnen und die darin befindlichen Särge ans Tageslicht zu
bringen. Die Sonne ging auf, lange bevor sie mit ihrer Arbeit
fertig waren.
Die beiden ersten Särge enthielten die Leichen eines Mannes
und einer Frau, die zweifellos tot waren und es auch bleiben
würden.
Der Mann, der in dem letzten Sarg lag, den Andrej und
Thobias aufbrachen, bot einen anderen Anblick. Einen
schlimmeren Anblick.
Auch er war tot. Die Verwesung hatte bereits eingesetzt. Und
er war offenbar keines friedlichen Todes gestorben. Sein Körper
lag in einer derart verkrümmten Haltung im Sarg, als wäre in
allen seinen Gliedmaßen mindestens ein Knochen gebrochen.
Seine Haut hing in Fetzen. Er hatte sich selbst das Gesicht
zerfleischt, und alle seine Fingernägel waren zersplittert.
»Großer Gott!«, flüsterte Thobias. Er bekreuzigte sich, und
auch Andrej spürte, wie ihm alles Blut aus dem Gesicht wich.
Selbst Abu Dun sog beim Anblick des Leichnams entsetzt die
Luft zwischen den Zähnen ein.
Es musste ein entsetzlicher Todeskampf gewesen sein, dachte
Andrej, der Stunden, wenn nicht Tage gedauert hatte. Der Mann
musste am Schluss mit solcher Verzweiflung um sich
geschlagen haben, dass es ihm tatsächlich gelungen war, eines
der massiven Bretter zu zertrümmern, aus denen der Sarg
bestand. Erdreich war eingedrungen und hatte seine Panik
vermutlich noch gesteigert.
»Ein Toter, der im Grab wieder erwacht«, murmelte Abu
Dun.
»Er war niemals tot«, antwortete Thobias. Langsam setzte er
sich auf und fuhr sich mit dem Handrücken über das
schweißnasse Gesicht. Er hinterließ eine schmierige breite
Schmutzspur, ohne es überhaupt zu bemerken.
»Niemals tot?«, fragte Abu Dun. »Warum haben sie ihn dann
begraben?«
»Weil sie geglaubt haben, dass er tot ist«, antwortete Thobias.
»Ich habe von solchen Fällen gehört, während meines
Anatomiestudiums - aber ich habe es noch nie mit eigenen
Augen gesehen.« Er erschauderte sichtbar. »Mein Gott. Ich
hätte nicht gedacht, dass es so grässlich ist!«
»Was soll das heißen - sie haben geglaubt, dass er tot ist?«,
fragte Abu Dun.
»Ein Mensch lebt, oder er ist tot. Sein Herz schlägt, oder es
schlägt nicht, so einfach ist das.«
»So einfach ist es leider nicht«, antwortete Thobias. Er sah
wieder in den geöffneten Sarg hinab. Sein Gesicht war grau vor
Entsetzen. Doch so sehr ihn der Anblick auch erschreckte,
schien es ihm gleichzeitig kaum möglich zu sein, den Blick
davon abzuwenden.
»Es kommt vor«, fuhr er fort. »Sogar öfter, als man glauben
mag. Die Kranken hören scheinbar auf zu at-men. Die
Körpertemperatur fällt, und das Herz schlägt nur noch
unregelmäßig. Manchmal bluten sie nicht einmal mehr, wenn
man in ihre Haut schneidet.«
»Das hast du dir ausgedacht«, behauptete Abu Dun. Seine
Stimme zitterte leise.
»Selbst ein erfahrener Arzt hätte große Mühe festzustellen,
dass diese Menschen noch leben.«, fuhr Thobias fort, ohne Abu
Duns Einwurf auch nur zu beachten. Vermutlich hatte er seine
Worte gar nicht gehört. Er starrte den Toten noch immer an.
»Sie werden für tot befunden und beigesetzt.«
»Und wachen irgendwann wieder auf«, vermutete Andrej.
»Nach Stunden, oder vielleicht auch Tagen.« Ihn schauderte.
»In einem Sarg. Tief unter der Erde.

Weitere Kostenlose Bücher