Der Todschlaeger
Francs
Mindestsumme. Wenn sie nicht ständig laut
davon sprach, so aus Furcht, den Anschein zu
erwecken, als tue es ihr leid um die durch
Coupeaus Krankheit aufgezehrten Ersparnisse.
Oft wurde sie ganz blaß, weil sie sich beinahe
etwas über ihr Verlangen hätte entschlüpfen
lassen, und verwirrt wie über einen häßlichen
Gedanken, nahm sie ihren Satz wieder zurück.
Nun würde man vier oder fünf Jahre arbeiten
müssen, bevor man eine so große Summe
beiseite gelegt hätte. Gerade darüber war sie
trostlos, daß sie sich nicht sofort selbständig
machen konnte; sie würde für die Bedürfnisse
des Haushaltes aufgekommen sein, ohne auf
Coupeau zu rechnen, und hätte ihm einige
Monate Zeit gelassen, um wieder Geschmack
an der Arbeit zu finden. Sie hätte sich
beruhigt, weil sie der Zukunft sicher und ihrer
geheimen Ängste enthoben gewesen wäre, von
denen sie sich manchmal befallen fühlte, wenn
er sehr angeheitert heimkehrte, sang und
irgendeinen schönen Streich dieses Tölpels
MeineBotten erzählte, dem er einen Liter
Wein spendiert hatte.
Als sich Gervaise eines Abends allein zu
Hause befand, trat Goujet ein und ging nicht
gleich wieder, wie es sonst seine Gewohnheit
war. Er hatte sich gesetzt, er rauchte und
schaute sie dabei an. Er mußte wohl einen
schwerwiegenden Satz auszusprechen haben;
er überlegte ihn hin und her, ließ ihn reifen,
ohne ihm eine angemessene Form geben zu
können. Nach einem langen Schweigen
entschloß er sich endlich, er nahm seine Pfeife
aus dem Mund, um alles in einem Zug zu
sagen:
»Madame Gervaise, würden Sie mir erlauben,
Ihnen Geld zu leihen?«
Sie stand gerade über eine Schublade ihrer
Kommode gebeugt und suchte Wischlappen.
Hochrot richtete sie sich wieder auf. Er hatte
also gesehen, wie sie am Morgen fast zehn
Minuten lang verzückt vor dem Laden
gestanden? Er lächelte mit verlegener Miene,
als hätte er da einen beleidigenden Vorschlag
gemacht.
Sie aber lehnte energisch ab; niemals würde
sie Geld annehmen, ohne zu wissen, wann sie
es zurückgeben könne. Zudem handele es sich
wirklich um eine zu bedeutende Summe. Und
als er betreten darauf bestand, rief sie
schließlich:
»Aber Ihre Heirat? Ich kann todsicher nicht
das Geld für Ihre Heirat nehmen!«
»Oh, genieren Sie sich nicht«, antwortete er,
und nun wurde er rot. »Ich heirate nicht mehr.
So ein Einfall, wissen Sie ... Wirklich, ich
borge Ihnen lieber das Geld.«
Da senkten beide den Kopf. Zwischen ihnen
bestand etwas ganz Zartes, von dem sie nicht
sprachen. Und Gervaise nahm an. Goujet hatte
seine Mutter in Kenntnis gesetzt. Sie gingen
über den Treppenflur, suchten sie sogleich auf.
Die Spitzenklöpplerin war ernst, ein wenig
traurig, hatte ihr ruhiges Gesicht über den
Klöppelsack gebeugt. Sie wollte ihrem Sohn
nicht widersprechen, aber sie billigte
Gervaises Plan nicht mehr; und sie sagte
unumwunden warum: mit Coupeau nehme es
ein schlimmes Ende, Coupeau würde ihr den
Laden durchbringen. Vor allem verzieh sie
dem Bauklempner nicht, daß er sich geweigert
hatte, während seiner Genesungszeit lesen zu
lernen; der Schmied hatte sich erboten, es ihm
beizubringen, aber der andere hatte ihn zum
Henker gewünscht und die Wissenschaft
beschuldigt, sie lasse die Leute abmagern. Das
hatte die beiden Arbeiter fast miteinander böse
werden lassen, und jeder ging seiner Wege. Im
übrigen zeigte sich Frau Goujet, als sie die
flehenden Blicke ihres großen Kindes sah, sehr
gütig zu Gervaise. Es wurde vereinbart, den
Nachbarn fünfhundert Francs zu leihen. Sie
sollten sie in Monatsraten von zwanzig Francs
zurückzahlen. Das würde eben so lange
dauern, wie es dauerte.
»Hör mal, der Schmied hat wohl ein Auge auf
dich geworfen«, rief Coupeau lachend aus, als
er von der Geschichte erfuhr. »Oh, da bin ich
ganz unbesorgt, er ist ein zu großer Trottel ...
Sein Geld kriegt er zurück. Aber, wirklich,
wenn er es mit Gaunern zu tun hätte, dann
wäre er ganz schön angeschmiert.«
Gleich am nächsten Tag mieteten die
Coupeaus den Laden. Gervaise lief den ganzen
Tag von der Rue Neuve de la Goutted'Or zur
Rue de la Goutted'Or. Als man sie so
vorübergehen sah, leichtfüßig und dermaßen
entzückt, daß sie nicht mehr hinkte, wurde im
Viertel erzählt, sie habe sich wohl operieren
lassen.
Kapitel V
Gerade zum 1. April hatten die Boches die
Rue des Poissonniers verlassen und saßen in
der Conciergeloge des großen Hauses in
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