Der Zusammenbruch
Schreckensruf.
»Glaubt Ihr, er kommt hierher?«
»Natürlich, es kommt mir ganz bestimmt so vor ... Er wäre doch recht wenig neugierig; er hat doch den Kleinen noch nicht gesehen und weiß doch, daß er da ist ... Und dann seid Ihr am Ende doch auch noch da, auch nicht gerade häßlich und ganz ansehnlich.«
Mit einer flehenden Handbewegung brachte sie ihn zum Schweigen. Karlchen war durch das Geräusch aufgewacht und hob den Kopf. Mit unsichern Blicken rief er sich, wie aus einem Traume auffahrend, das Schimpfwort wieder ins Gedächtnis zurück, das er von einem Spaßvogel im Dorfe gelernt hatte, und erklärte mit dem ganzen Ernst eines dreijährigen Kerlchens:
»Schweinehunde, die Preußen!«
Wie närrisch drückte seine Mutter ihn in ihre Arme und setzte ihn dann auf ihr Knie. Ach! Das arme Wesen, ihre Freude und ihre Verzweiflung, das sie von ganzer Seele liebte und doch nicht ansehen konnte, ohne zu weinen, dies Kind ihres Fleisches, das sie zu ihrem Schmerz von den gleichaltrigen kleinen Burschen, wenn sie auf der Straße mit ihmspielten, in häßlicher Weise den Preußen nennen hörte! Sie küßte ihn, als wollte sie die Worte wieder in seinen Mund hineindrängen.
»Wer hat dir die häßlichen Worte beigebracht? Das darfst du nicht, so was mußt du nicht wieder sagen, mein Liebling!«
Mit kindlicher Dickköpfigkeit wollte Karlchen vor Lachen ersticken und sing schleunigst wieder an:
»Schweinehunde, die Preußen!«
Als er dann aber seine Mutter in Tränen ausbrechen sah, fing er auch an zu weinen und hing sich an ihren Hals. Mein Gott, was für ein neues Unglück drohte ihr da wieder? Hatte sie mit Honoré noch nicht genug verloren, die einzige Hoffnung ihres Lebens, die Gewißheit, daß sie vergessen dürfe und noch einmal glücklich werden würde? Nun mußte der andere wieder erscheinen und sie vollends unglücklich machen.
»Komm,« flüsterte sie, »komm schlafen, mein Liebling! Ich hab' dich trotz allem lieb, denn du weißt ja nicht, was für Kummer du mir machst!«
Sie ließ Prosper einen Augenblick allein, der, um ihr mit seinen Blicken nicht peinlich zu werden, so getan hatte, als ob er sehr sorgfältig an seinem Peitschengriff schnitzte.
Aber ehe Silvine Karlchen zu Bett legte, brachte sie ihn wie gewöhnlich erst noch zum Gutenachtsagen zu Jean, denn das Kind war sehr gut Freund mit ihm. Als sie heute abend mit ihrer Kerze eintrat, sah sie, daß der Verwundete aufrecht saß und mit weit offenen Augen in die Finsternis hineinstarrte. Sieh! Also er schlief noch nicht? Nein, wahrhaftig nicht, er träumte von allen möglichen Dingen, wie er so allein in dieser stillen Winternacht dasaß. Und während sie den Ofen voll Kohlen schüttete, spielte er einen Augenblickmit Karlchen, der sich wie ein junges Kätzchen auf seinem Bett herumkugelte. Er kannte Silvines Geschichte und fühlte so etwas wie Freundschaft für dies tüchtige, unterwürfige, im Unglück so erprobte Mädchen, wie sie nun um den einzigen Mann trauerte, den sie geliebt hatte, und keinen andern Trost besaß als diesen Kleinen, der ihr zugleich von seiner Geburt an soviel Qual verursachte. Als sie näher kam, nachdem sie den Ofen zugedeckt hatte, um ihm den Kleinen aus den Armen zu nehmen, bemerkte er auch an ihren roten Augen, daß sie geweint hatte. Was war denn los? Hatte ihr wieder jemand Kummer gemacht? Aber sie mochte ihm keine Antwort geben: später wollte sie es ihm mal sagen, wenn es überhaupt der Mühe wert wäre. Mein Gott, war denn das Dasein für sie jetzt nicht ein ständiger Kummer?
Endlich brachte Silvine Karlchen weg, als sich auf dem Hofe vor dem Hause das Geräusch von Schritten und Stimmen hören ließ. Und auch Jean horchte voller Überraschung hin.
»Was gibt's denn? Das ist doch nicht Vater Fouchard, der da kommt; ich habe doch die Räder des Karrens nicht gehört.«
In der Stille seiner entlegenen Kammer hatte er sich schließlich daran gewöhnt, sich auf diese Weise das innere Leben auf dem Hofe zu erklären, und seine geringsten Laute waren ihm vertraut geworden. Er spitzte also die Ohren und hörte sofort:
»Ach ja, das sind die Leute, die Franktireurs aus dem Walde von Dieulet, die sich Vorräte holen wollen.«
»Rasch!« flüsterte Silvine im Weggehen und ließ ihn aufs neue im Dunkel, »ich muß mich beeilen, damit sie ihr Brot kriegen!«
Richtig hämmerten Fäuste gegen die Küchentür, und Prosper,der allein geblieben war und sich darüber ärgerte, zögerte und verhandelte mit ihnen. Wenn
Weitere Kostenlose Bücher