Der zweite Tod
tat sie bei Fächern, die sie nicht mochte, normalerweise nicht.
»Papa!«, begann Linda. »Höglunds Drucker war kaputt. Er musste uns die Aufgaben diktiiiieren!«
Sie klang empört.
»Und wie lief es?«, fragte Kjell.
»Wir mussten die Umlaufbahn von einem Kleinplaneten berechnen. Und der hieß Joe!«
»Ein Planet namens Joe?«, fragte Barbro amüsiert. »Wie Joe Pesci?«
»Ja!«
Kjell wusste, dass ihre Berechnung der Umlaufbahn des Planeten Joe kein gutes Ende genommen haben konnte, sonst hätte sie ihn schon in der Mittagspause angerufen.
»Das hat mich total durcheinandergebracht. Ich habe gesagt, dass es doch gar keinen Planeten Joe gibt! Wie soll man da die Umlaufbahn berechnen?«
»Ist das denn so wichtig?«, fragte Sofi vorsichtig. Linda sah sie erstaunt an. Sofi versuchte, sich zu erklären. »Ich meine, wenn es einen Planet mit dem Namen loegäbe, dann würden doch die keplerschen Gesetze für ihn genauso gelten. Der Planet könnte doch auch ›Barbro‹ heißen.«
Nein. Das konnte er eben nicht.
Kjell schob seinen Stuhl zurück und erhob sich. Auf dem Weg zu seinem Mantel strich er seiner Tochter übers Haar. Er überlegte, ob Lindas Auftritt ein Manöver war, kam jedoch zu dem Schluss, dass sie das nicht nötig hatte. Seit Madeleines Tod vor vier Jahren waren sie gemeinsam durch dick und dünn gegangen. Vom geteilten Leid nahm die Festkörperphysik gute zwei Drittel ein. »Ich bin mir sicher, dass es irgendwo einen Planeten namens Barbro gibt«, sagte er und schlüpfte in den Mantel. »Seine Umlaufbahn ist auf jeden Fall exzentrisch.«
Barbro war so müde, dass sie nur noch abwinken konnte. Sie hatte keine Kraft mehr, jetzt noch eine solche Herausforderung anzunehmen.
Linda rührte sich nicht vom Stuhl, obwohl Kjell seine Hand schon auf die Türklinke gelegt hatte. »Das ist doch noch gar nicht alles. Er hat es dann an die Tafel geschrieben. Und weißt du was, Papa?« Sie drehte sich zu ihm. »Der schreibt sich gar nicht J-O-E. Er meinte Io!«
»Den Jupitermond?«, fragte Sofi.
Linda nickte.
Also doch ein Manöver. Linda wusste nur zu gut, wie sie ihren Vater aufwühlen konnte.
»Ist es dir wirklich schlecht gegangen?«, fragte er, als sie allein im Aufzug zur Garage hinabfuhren.
Sie schüttelte den Kopf und wirkte angespannt dabei. »Es war nicht so schlimm.«
Bei ihm siegte die Neugier über alle Bedenken. Er zog den Schlüssel aus der Tasche und hielt ihn ihr hin. »Du darfst fahren, wenn du möchtest.«
Linda zog nur kurz vor Erstaunen ihre Augenbrauen hoch, nahm den Schlüssel und sagte: »Okay.« Zu sehen, wie seine zierliche Tochter in der Tiefgarage des Polizeihauses den Wagen aufschloss, sich hineinsetzte und die nötigen Einstellungen an Sitz und Spiegel vornahm, kam ihm unwirklich vor. Aber dann hörte es sich gut an, wie sie den Wagen anließ.
Jetzt würde alles auf ihre Aufmerksamkeit ankommen. Wer beim Verlassen der Wohnung den Müll mit hinunternimmt, dann aber vergisst, ihn in die Tonne zu werfen, neun Stationen lang mit der stinkenden Tüte in der U-Bahn steht und sich wundert, weshalb er von allen angestarrt wird, wer dann von zwei Schutzpolizisten dabei beobachtet wird, wie er versucht, die Tüte in der bestüberwachten U-Bahn-Station Nordeuropas unauffällig zu deponieren, der musste leider auch ertragen, dass er ausgiebig geprüft wird, bevor er allein Auto fahren darf.
Die Tiefgarage war nicht einfach. Es gab dort Ampeln, viele Rechts-vor-links-Fallen und am Ende hinter der Schranke eine frauenfeindliche Steigung, wo selbst er zweimal in der Woche den Motor abwürgte. Linda hatte den Wagen und die Vorfahrt im Griff. An der Ausfahrt musste sie vor der Schranke halten und Kjell sich ausweisen. An der Steigung heulte nicht einmal der Motor auf.
Draußen quälte sich der Berufsverkehr auf der Hantverkargatan. Die Fahrbahn war zum Glück schneefrei. Ihre Mutter Madeleine hatte bereits sechs Jahre Berufsverkehr mit einem alten Ford hinter sich gehabt, bevor sie Kjell kennenlernte, der ihr erklärte, dass man das Kupplungspedal loslassen könne, wenn man vorher den Gang herausnahm. Madeleine hatte anscheinend mehrmals in der Fahrschule gefehlt und jahrelang die harte Kupplung gedrückt gehalten. Jeden Morgen und jeden Abend jeweils eine Stunde lang, immer wenn das Auto gerade stand. Ihm war es aufgefallen, weil ihr linkes Bein immer so zitterte, manchmal auch, wenn sie gar nicht am Steuer saß. Madeleine hatte es dann ungläubig ausprobiert und danach so
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