Die 2ten Chroniken von Fitz dem Weitseher 02 - Der goldene Narr
missbrauchst, wirst du uns zerstören, noch bevor wir unser Potential entdeckt haben.«
Erneut hielt ich inne. Mein Mund war wie ausgetrocknet, und ich bekam keine Luft mehr. Zu jeder anderen Zeit wäre ich entsetzt darüber gewesen, wie schwach ich war. Im Augenblick konnte ich jedoch keinen Gedanken darauf verschwenden. Ich hatte das Gefühl, als sei ich mit dem alten Mann an einem Scheidepunkt angelangt. So viele Jahre lang war er mein Lehrmeister und Mentor gewesen. Als sein Lehrling hatte ich seine Weisheit und seine Entscheidungen nur selten in Frage gestellt, ich war fest davon überzeugt gewesen, dass er wusste, was das Beste war. Doch seit dem Sommer hatte ich beobachten müssen, wie sein brillanter Geist an Schärfe verlor, und auch sein Erinnerungsvermögen war nicht mehr das, was es einmal war. Ich hatte begonnen, seine Entscheidungen zu hinterfragen und aus anderer Perspektive zu betrachten; und aus der Perspektive eines dreißig Jahre jüngeren Mannes war ich nicht länger sicher, ob ich ihm bei seinen Entscheidungen noch immer zustimmen konnte. Nun da ich also wusste, dass seine Weisheit nicht vollkommen war, fühlte ich mich berechtigt, Anerkennung von ihm dafür zu verlangen, dass ich in manchen Bereichen mehr wusste wie er. Das war eine seltsame Gleichheit, die ich da in Anspruch nahm. Ich behauptete nicht, wirklich klüger zu sein als er – in vielen Punkten war ich das auch sicher nicht –, doch in einigen Dingen täte er besser daran, auf mich zu hören.
So lange war er mein Mentor gewesen und all seine Taten hatten außer Frage gestanden. Nun fiel es uns beiden schwer, dass ich ihn als Menschen sah. Ich hasste es, dass ich auf seine Fehler aufmerksam geworden war. Ich wollte nie derjenige sein, der ihm den Spiegel vorhielt. So schwierig es auch für mich war, ich musste mir eingestehen, dass er schon immer so ehrgeizig und machthungrig gewesen war. Eingeschränkt von der Politik auf seiner Suche nach der Magie und durch einen Zufall zur Unsichtbarkeit verdammt, hatte er sich dennoch zu einer beachtlichen Macht entwickelt. Es war sein Wille gewesen, der den Weitsehern den Thron erhalten hatte, als König Listenreich im Sterben lag und seine beiden Söhne sich um die Erbfolge stritten. Es war Chades Spionagenetzwerk gewesen, das Königin Kettricken dabei geholfen hatte, ihre Macht zu bewahren, bis ihr Sohn die Volljährigkeit erreichte. Er stand nun kurz davor, so kurz davor, einen weiteren Weitseher auf den Thron zu heben.
Und doch … Wenn ich ihn anschaute, sah ich deutlich, dass seine bisherigen Erfolge ihm nicht genügten. Er würde keinen seiner Erfolge wirklich als Sieg bezeichnen, bevor er nicht erreicht hatte, wonach er sich immer gesehnt hatte. Macht besaß er und alles, was damit in Verbindung stand. Er konnte sie offen ausüben, und die Menschen akzeptierten das als sein Recht als Oberster Ratgeber der Königin. Doch in dem geschätzten Ratgeber lebte noch immer der betrogene Bastard, ein um sein Erbe gebrachtes Kind. Kein Triumph würde ihm je reichen, bevor er nicht die Gabe gemeistert hatte, ja, und bevor andere nicht wussten, dass er sie beherrschte.
Ich fürchtete, dass er in dem Streben nach diesem einen Ziel alles kaputtmachen würde, was er bisher erreicht hatte. Seine Entschlossenheit drohte, ihn blind zu machen. Und so beobachtete ich ihn, während er über meine Worte nachdachte. Eingehend studierte ich ihn und wartete. Er konnte den Lauf der Jahre nicht rückgängig machen. Noch nicht einmal die Gabe würde ihn wieder jung werden lassen. Aber vielleicht würde ihm das Gleiche gelingen wie Krähe, vielleicht würde er den Alterungsprozess aufhalten und den Schaden reparieren können, den das Alter bis jetzt verursacht hatte. Sein Haar war weiß und die Falten in seinem Gesicht tief, doch seine Knöchel waren schon nicht mehr so knochig, und seine Wangen von gesunder Farbe. Auch seine Augen waren wieder klar.
Ich sah, wie er eine Entscheidung traf, und mich verließ der Mut, als er sich rasch erhob und ihm deutlich anzumerken war, dass er dieses Gespräch schnell beenden wollte. »Du fühlst dich nicht gut, Fitz«, sagte er. »Er wird noch Tage dauern, bis du wieder kräftig genug bist, um Pflichtgetreu und Dick zu lehren, was du über die Gabe weißt. Während dieser Tage will ich keine Zeit verschwenden. In der Zeit, in der du dich erholst, werde ich deshalb meine eigenen Gabenstudien fortsetzen. Ich werde umsichtig sein, das verspreche ich dir. Ich werde niemanden
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